Brasilien: Wiederaufschwung nach dem rechtsextremen Populismus
25.04.2024 I Die Angriffe des Temer- und des Bolsonaro-Regimes haben die brasilianischen Gewerkschaften nicht entmutigen können. Stattdessen haben sie ihre Lehren gezogen und sich neu erfunden. Geholfen haben die Politisierung der Arbeitenden, langer Atem und internationale Solidarität.
Soziale Themen stehen in Brasilien wieder auf der öffentlichen Agenda. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat die Verminderung der Ungleichheit und den Kampf gegen Hunger ganz oben auf die Tagesordnung des diesjährigen G20-Gipfeltreffens gesetzt, dessen Gastgeber er ist. Und die
Gewerkschaften nutzen die Struktur dieses Regierungsdialogs der 20 größten Wirtschaftsnationen. Bei der Auftaktveranstaltung der Labour 20-Arbeitsgruppe (L20) in São Paulo forderten sie Ende März einen „neuen Sozialpakt“ und eine „neue Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft“, um eine gerechte und nachhaltige Welt zu schaffen.
„Wir erwarten, dass unsere Positionen bei den Debatten ernst genommen werden und auch Eingang in das G20-Abschlussdokument finden“, erklärt Antônio Lisboa, Sekretär für internationale Beziehungen des brasilianischen Gewerkschaftsdachverbandes CUT (Central Única dos Trabalhadores). Als Koordinator der L20-Gruppe in Brasilien betont er, dass die Interessen der Gewerkschaften und die Agenda der Regierung im Kontext der G20 viele Parallelen aufweisen. „Diese Übereinstimmung müssen wir nutzen, damit die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht die Leidtragenden der anstehenden Veränderungen wie Energiewende oder Digitalisierung werden.“
Solche Übereinstimmungen wie auch den Optimismus von Antônio Lisboa hat es in Brasilien viele Jahre lang nicht gegeben. Erst seit Januar 2023 hat der frühere Gewerkschafter Lula das Präsidentenamt wieder inne, nachdem er die Wahl sehr knapp gegen den Rechtsextremisten Jair Bolsonaro gewonnen hatte. Bolsonaro hatte Brasilien in seinen vier Regierungsjahren auf einen streng neoliberalen Kurs gebracht und war mit Fakenews sowie fragwürdigen Gesetzesinitiativen gegen Gewerkschaften und soziale Bewegungen vorgegangen.
Fernando Lopes erinnert diese Zeit als „brutalen Angriff“ auf alle Arbeitenden: „Ziel war die Zerstörung von sozialen Rechten, der gewerkschaftlichen Organisierung und aller Dialogmöglichkeiten.“ Lopes ist Ingenieur beim Stahlkocher Gerdau im nordostbrasilianischen Bundesstaat Bahia und seit über 35 Jahren im Dachverband der Metallgewerkschaften CNM (Confederação Nacional dos Metalúrgicos) sowie noch nicht ganz so lange auf internationaler Ebene bei IndustriALL aktiv.
Die Rückschritte in seinem Land hätten bereits 2016 begonnen, sagt Lopes. Damals wurde Präsidentin Dilma Rousseff durch einen parlamentarischen Putsch gestürzt und durch den konservativen Michel Temer ersetzt. Damit setzte eine breite Allianz rechter Kräfte den 14 Regierungsjahren der Arbeiterpartei PT ein Ende, die Lula 2003 mit seinen ersten beiden Amtszeiten eingeläutet hatte. Temer brachte gleich nach seiner Amtsübernahme eine Arbeitsrechtsreform auf den Weg, die die Rechte von Arbeitnehmenden mittels Flexibilisierungen bis heute beschneidet. Zudem griff die Reform in die Finanzierung gewerkschaftlicher Arbeit ein, so dass den Vertretungen der Arbeitnehmenden rund 80 Prozent ihrer Einnahmen wegbrachen.
Auch für Lopes ist Lulas dritte Amtszeit ein Grund für Optimismus. „Die Demokratie ist zurück und Dialog wieder möglich.“ Doch Realismus sei jetzt wichtig, denn Lula habe keine Mehrheit im Kongress und sei deswegen gezwungen gewesen, viele rechte Minister in sein Kabinett aufzunehmen. „Nach 14 Monaten Lula gibt es bereits viele kleine Fortschritte, wir sind also auf dem richtigen Weg. Aber wir müssen noch viel mehr erreichen, und dafür müssen wir weiterkämpfen“, sagt der Metallgewerkschafter.
Auch der im Februar erschienene Gewerkschaftsmonitor der Friedrich Ebert Stiftung (FES) bescheinigt der Lula-Regierung erste Erfolge im Bereich Arbeitspolitik. Etwa die Erhöhung des Mindestlohnes sowie Maßnahmen gegen Sklaverei ähnliche Arbeitsverhältnisse, die in dem südamerikanischen Land immer wieder Schlagzeilen machen. Zugleich konstatiert die FES, dass die Gewerkschaftslandschaft hoch fragmentiert ist und bislang noch kein Rezept gegen die seit Jahren bestehende Deindustrialisierung gefunden habe.
Stolz ist Lopes auf die Widerständigkeit der brasilianischen Gewerkschaften: „Es ist ihnen gelungen, sich neu zu erfinden!“ Sie hätten erkannt, dass es für gewerkschaftliche Aktivität keine Komfortzonen gebe, nicht unter rechten, aber auch nicht unter linken Regierungen. „Auch wenn wir die Wahl Lulas aktiv unterstützt haben, müssen wir immer in Habachtstellung sein. Was wir erreichen, hängt ausschließlich von uns ab, geschenkt bekommen wir nichts“, sagt Lopes.
Einen langen Atem haben ist denn auch sein Rat an gewerkschaftliche Kolleg*innen in anderen Ländern. Es sei wichtig, stets Autonomie gegenüber Regierungen und Parteien zu wahren, auf die Organisierung der Arbeitenden zu setzen und auf eine Politisierung derjenigen, deren Rechte auf dem Spiel stehen, sagt Lopez. „Und ganz wichtig ist internationale Solidarität – die haben wir in Brasilien während der sechs schwierigen Jahre sehr intensiv wahrgenommen.“
Autor: Andreas Behn lebt seit mehr als 15 Jahren in Brasilien und schreibt genauso lange über das Land.