Kommentar: Globaler sozialer Fortschritt braucht ein soziales Europa
25.04.2024 I Das EU-Parlament wird gewählt. Ist das wichtig? Ja, denn die Wahlen entscheiden darüber, wie demokratisch, sozial und nachhaltig Europa künftig aufgestellt ist. Und sie bestimmen, wie fair und solidarisch die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden sein kann – und damit über Leben und Chancen der dort Arbeitenden.
In vielen Ländern sehen wir eine Abkehr von der Idee der liberalen Demokratie. Während in europäischen Staaten teilweise rechtsnationale Regierungen die Abkehr von Zusammenarbeit und Solidarität proben, sieht es im Globalen Süden oft ähnlich aus: Schwellenländer mit und ohne populistische Rechtsregierungen wenden sich von der EU ab und suchen den Schulterschluss mit autokratischen Regimen wie China und Russland. Die Vorteile der liberalen Demokratie geraten ins Hintertreffen, auch weil Europa soziale Herausforderungen auf dem eigenen Kontinent nicht oder nicht schnell genug in den Griff bekommt.
Die Europäische Union muss die Partnerin sein, auf die Länder im globalen Süden bauen, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Wie lässt sich eine solidarische Zusammenarbeit auf Augenhöhe umsetzen?
Dazu kann auch ein europäisches Lieferkettengesetz beitragen. Denn anders als von Konservativen und Liberalen vermutet, ist ein faires Lieferkettengesetz keine westliche Großzügigkeit. Es geht auch nicht um linke Wirtschaftsfeindlichkeit, von der andere gerne träumen. Im Gegenteil: Ein faires, europäisches Lieferkettengesetz kann die gegenseitigen Handelsbeziehungen stärken, sichern und nachhaltiger gestalten. Dass die EU-Mitgliedsländer sich jetzt endlich auf ein Lieferkettengesetz geeinigt haben, lässt aufatmen. Der beschlossene Gesetzestext lässt gegenüber den ersten Entwürfen jedoch deutlich Federn. Das liegt vor allem an der Blockadehaltung der FDP und damit Deutschlands.
Betriebe müssen Verantwortung für ihre Zulieferer übernehmen. Als Volkswirtschaft Europa müssen wir Verantwortung für globale Zusammenhänge übernehmen, anstatt uns dieser Verantwortung zu entziehen. Europa muss vorweg gehen – und andere Regionen dazu anspornen, sich mit auf den Weg zu gerechterem Handel(n) zu machen.
Allerdings: Verständnis für Lieferkettengesetze und globale Solidarität kann nur erreicht werden, wenn die EU ihre Hausaufgaben auf dem eigenen Kontinent macht. Die Transformation unserer Wirtschaft muss ein Gemeinschaftsprojekt sein. Denn die sozial-ökologische Transformation ist nicht nur notwendig, sondern kann auch das Werkzeug sein, Ungerechtigkeiten zu beenden. Die Energiewende und die Förderungen von Innovation in besonders betroffenen Regionen der Transformationen wollen finanziert werden. Es braucht eine EU, die erkennbar als Vorbild voranschreitet. Ein Kurswechsel in der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik ist überfällig.
Wenn wir in Zukunft eine Europäische Union wollen, die sich glaubhaft globalen Fragen widmen kann, müssen die sozialen Herausforderungen in Europa gelöst werden. Als Bundesjugendsekretär der DGB-Jugend erlebe ich, welche Hoffnungen Jugendliche in die Europäische Union setzen. Leider wurden diese Hoffnungen allzu oft enttäuscht. Mit den Errungenschaften der früheren Jahrzehnte lässt sich heute niemand mehr begeistern.
Diese Aufgabe muss Europa annehmen. Dafür ist es nötig, die Wirtschafts- und Arbeitszusammenhänge in der EU gerecht zu gestalten. Privatisierungen von Schlüsselbetrieben sowie öffentlichen Einrichtungen müssen von der Regel zum Tabu werden. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass Europa gerade junge Menschen begeistern kann. Davon ist den letzten Jahren wenig zu spüren.
Die Lösung zentraler Herausforderungen kann das Vertrauen in Europa stärken. Europa muss sozialer werden. Konkret heißt das, dass die EU-Mindestlohnrichtlinie schnell umgesetzt werden muss. Von einem höheren Mindestlohn und mehr Tarifbindung werden auch Beschäftigte in Deutschland profitieren. Gleiches Geld für gleiche Arbeit am gleichen Ort muss Realität werden. Die Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen muss enden, damit die EU der starke Motor für sozialen Fortschritt werden kann.
Viele junge Menschen können mit Erasmus Europa kennenlernen und im Ausland studieren. Für Auszubildende ist das oft mit hohen Hürden verbunden. Zwar besteht für sie die Möglichkeit, Erasmus-Förderung für Praktika im Ausland während der Ausbildung zu beantragen, die Umsetzung ist allerdings kompliziert. Schulen und Betriebe müssen in die Lage versetzt werden, Auszubildende dabei wirksam zu unterstützen. Wenn diese Maßnahmen umgesetzt werden, gewinnt Europa. Junge Menschen müssen von Europa profitieren, egal welchen Bildungsweg sie nehmen.
Ein soziales Europa ist nur ohne Schwarze Null und Schuldenbremsen zu machen. Ein Ende der Sparpolitik und die Einführung einer europaweiten Transaktionssteuer können die Mittel freisetzen, die für so eine Politik benötigt werden. Das Geld ist da – es muss nur gerechter verteilt werden.
Bei der Europawahl am 9. Juni kommt es darauf an, Europa sozial zu gestalten, damit Europa wiederum sozialen Fortschritt global gestalten kann.
Autor: Kristof Becker ist Bundesjugendsekretär der DGB-Jugend.