Menschen mit Behinderung in Thailand: Knackpunkt ist der Zugang zu Bildung
1.9.2022 I In Thailand wird der Großteil der Menschen mit Behinderung aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Die Initiative Young Futuremakers Thailand hat neue Wege ausprobiert.
Wie in den meisten anderen Ländern hat die Corona-Pandemie auch in Thailand die ohnehin vulnerablen Gesellschaftsgruppen überproportional getroffen – am stärksten von ihnen junge Frauen mit körperlichen und mentalen Beeinträchtigungen. Um ihre Lage zu verbessern, wurden im Februar 2021 die Young Futuremakers Thailand gegründet. Die Initiative, die mit Hilfe örtlicher Gewerkschaften aufgesetzt wurde, zielt vor allem darauf ab, benachteiligten Jugendlichen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Angesichts der neuen Herausforderungen durch die weltweiten Krisen sind solche Maßnahmen wichtiger denn je.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen schätzt, dass es in Asien und dem angrenzenden Pazifikraum über 470 Millionen Menschen mit Behinderungen gibt, die sich im erwerbsfähigen Alter befinden. Knapp zwei Drittel von ihnen haben keine Arbeit – und die meisten, die einem Erwerb nachgehen, tun dies überproportional in informellen Sektoren ohne Absicherung. »Ihr Potenzial, einen Beitrag zum Arbeitsmarkt zu leisten, bleibt aufgrund von Hindernissen und Barrieren, mit denen sie in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt konfrontiert sind, weitgehend ungenutzt, insbesondere wenn sie in ländlichen Gebieten leben«, heißt es in einem aktuellen ILO-Bericht. Frauen seien dabei am stärksten betroffen, und die Corona-Pandemie habe die prekäre Lage für Menschen mit Behinderung extrem verschärft.
Das zeigt sich auch in Thailand. Etwa drei Prozent der Bevölkerung – immerhin etwas über zwei Millionen Menschen – verfügen derzeit über einen sogenannten Behindertenausweis, der die Voraussetzung für bestimmte Wohlfahrtsleistungen ist. Er ermöglicht zum Beispiel einen vergünstigten Zugang zum öffentlichen Nahverkehrssystem. Laut der jüngsten Regierungsstatistik sind die meisten Menschen mit Behinderung in ihrer Mobilität eingeschränkt (rund 50 Prozent); die zweithäufigste Einschränkung sind Sehbehinderungen (rund 18 Prozent). Nur knapp ein Viertel aller Thailänder_ innen mit Behinderungen über 15 Jahre geht einer regelmäßigen Arbeit nach. Meist verdienen sie sich ihren Lebensunterhalt mit einfachen Tätigkeiten in der Landwirtschaft oder Fischerei.
Die Statistik ist deprimierend, zumal in Thailand die Arbeitslosigkeit innerhalb der Gesamtbevölkerung vergleichsweise niedrig ist. Eine der großen Herausforderungen, Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt zu integrieren, ist der fehlende Zugang zu Bildung. Nur ein kleiner Teil (5 Prozent) der Betroffenen hat überhaupt eine über die Grundschule hinausgehende Sekundärbildung genossen.
Viele Konzerne sehen die Inklusion von Menschen mit Behinderung als Aufgabe der Wohltätigkeitsorganisationen.
Die Young Futuremakers Thailand setzen hier an. Junge Menschen mit Behinderungen werden in klassischen Ausbildungskursen geschult, zugleich lernen sie in Workshops, unternehmerische Fähigkeiten und Soft Skills, die über reine Fachkompetenzen hinausgehen, zu entwickeln. Anschließend besuchen sie Jobmessen. Die Nachhaltigkeit des Projekts ist allerdings beschränkt: Es war lediglich auf ein Jahr angelegt und ist Ende April ausgelaufen. Eine offizielle Auswertung steht noch aus.
Doch allein, dass es solche Initiativen überhaupt gibt, ist ein gesellschaftlicher Fortschritt. Denn erst seit den 1990er und insbesondere 2000er Jahren hat der Staat überhaupt angefangen, sich vermehrt um die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu kümmern. So wurden erste Hilfsorganisationen gegründet, die rechtlichen Möglichkeiten von Betroffenen verbessert und öffentliche Gebäude barrierefrei gestaltet. 2007 brachte die Regierung ein damals richtungsweisendes Gesetz auf den Weg, das Menschen mit Behinderung unter anderem Rechtsbeistand, Gebärdensprach-Dolmetscher_innen, Steuerbefreiungen und kostenlose Bildung zusichert. Ebenfalls müssen sich seither sämtliche – auch private – Unternehmen dazu verpflichten, auf jeweils hundert Angestellte mindestens eine Person mit Behinderung zu beschäftigen. Doch viele Konzerne sehen die Inklusion von Menschen mit Behinderung nach wie vor als Aufgabe der Wohltätigkeitsorganisationen und verleugnen die gesamtgesellschaftliche Verantwortung.
2008 unterzeichnete Thailand dann das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Doch es mangelt nach wie vor an der Umsetzung. Das hat auch mit tiefreichenden Vorurteilen und einer gesellschaftlichen Stigmatisierung zu tun. Laut einer Studie der Regierung von 2017 ist von den geschätzt 140.000 Kindern mit Behinderung die Hälfte nicht einmal behördlich registriert – sie erhalten demnach auch nicht die staatliche Unterstützung, die ihnen zusteht. Noch ehe sie die Pubertät erreichen, scheint ihr Lebensweg bereits vorgezeichnet.
Autor: Fabian Kretschmer ist Journalist und hat lange in Thailand gelebt, aktuell berichtet er aus Peking