Mexiko: Radikaler Wechsel – noch vor allem auf dem Papier
25.04.2024 I In den vergangenen vier Jahren hat der linke Präsident Andrés Manuel López Obrador begonnen, das Arbeitsrecht in Mexiko zu verbessern und die Gewerkschaften zu demokratisieren. Bei den nun anstehenden Wahlen kommt es darauf an, eine*n Nachfolger*in zu finden, der*die diesen Weg fortsetzt.
Es war der erste Streik, den das Audi-Werk im südmexikanischen Bundesstaat Puebla erlebte: Fast einen Monat lang legten die Beschäftigten Anfang des Jahres 2024 ihre Arbeit nieder, bis sich die Unternehmensleitung Mitte Februar auf eine Lohnerhöhung von 10,2 Prozent einließ. Zwei Drittel der Arbeiter*innen entschieden sich in einer Abstimmung dafür, den Vorschlag anzunehmen. Damit gab die unabhängige Gewerkschaft Sitaudi die Marschroute für zahlreiche Beschäftigte Mexikos vor. Denn die Fahrzeugindustrie gilt bei vielen Arbeitskämpfen als Orientierung.
Auch Präsident Andrés Manuel López Obrador sprach von einer „sehr guten Nachricht“. In dem Streik hätten sich die Regeln des neuen Handelsabkommens zwischen Kanada, USA und Mexiko (T-Mec) positiv niedergeschlagen, betonte der linke Staatschef. Der 2020 in Kraft getretene Vertrag verpflichtete seine Regierung zu Änderungen im Arbeitsrecht und einer Demokratisierung der Gewerkschaften. Nach einer Arbeitsreform dürfen Beschäftigte nun ohne Einmischung der Arbeitgeber*innen entscheiden, welcher Gewerkschaft sie beitreten. Zudem muss die Regierung sicherstellen, dass die Arbeiter*innen hinter ihren Vertreter*innen stehen, Einblick in ausgehandelte Kollektivverträge haben und per Abstimmung über diese entscheiden können.
Angesichts der langen Geschichte von Gewerkschaften, deren Vorsitzende im Interesse der Unternehmensleitung agierten und Millionengelder veruntreuten, erscheinen die Vorgaben geradezu revolutionär. Über viele Jahrzehnte hinweg waren die Verbände in ein korporatistisches System eingebunden, in dem die Staatspartei PRI, Arbeiter- und Bauernorganisationen, Unternehmen sowie Militärs Hand in Hand und äußerst korrupt das Land regierten. López Obrador hat den Kampf gegen die Korruption ganz oben auf seine Agenda gesetzt. Auch deshalb resümierte er nach Abschluss des T-Mec-Abkommens: „Was vereinbart wurde, ist gut für Mexiko.“
Über fünf Jahre ist der Linkspolitiker bereits im Amt, und noch immer stehen knapp 60 Prozent der Bevölkerung hinter ihm. Da die Verfassung keine zweite Amtszeit vorsieht, kann López Obrador nicht mehr antreten, wenn am 2. Juni ein neues Staatsoberhaupt gewählt wird. Doch dank seiner Popularität hat die Kandidatin seiner Morena-Partei, Claudia Sheinbaum, mit Abstand die größten Gewinnchancen. Dafür ist neben seiner populistischen Rhetorik, mit der er sich als Kämpfer gegen „die da oben“, die „korrupten Konservativen“, darstellt, sein sozialpolitischer Kurs verantwortlich. So ließ er den Mindestlohn um 110 Prozent erhöhen und sorgte dafür, dass alleinerziehende Frauen, Familien mit Personen mit Behinderung sowie Menschen über 65 Jahre finanzielle Unterstützung erhalten.
Die Gewerkschaften spielen in dieser Entwicklung eine ambivalente Rolle. Manche stehen immer noch der ehemaligen Staatspartei PRI nahe, andere Morena. Vor allem in den großen nationalen Verbänden dominieren weiterhin alte Strukturen. Das nutzt auch Morena, deren Politiker*innen oft dem korporatistischen PRI-System entstammen.
So stellt sich die Gewerkschaftsführung des parastaatlichen Erdölunternehmens Pemex im Wahlkampf hinter Sheinbaum. Der Leiter der Lehrergewerkschaft SNTE tritt sogar als Kandidat der Partei für den Senat an. Das führt dazu, dass die Verbände mit großen Kontingenten an Sheinbaums Wahlkampfveranstaltungen teilnehmen. Ob die Gewerkschafter*innen aus freien Stücken erscheinen, ist nicht ausgemacht. Auch heute noch ist es in vielen Verbänden üblich, dass Kredite oder Sozialleistungen an entsprechende Loyalität gebunden sind.
Da die Gewerkschaftsführer*innen jahrzehntelang vor allen in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, sind viele Arbeiter*innen skeptisch. „Sie wissen nicht, zu was die Gewerkschaften gut sein sollen, weil sie bislang zu nichts getaugt haben“, resümiert Politikwissenschaftlerin Graciela Bensusán. Zugleich bemühten sich Unternehmer*innen weiterhin, die Verbände wie früher zu kontrollieren.
Über die Hälfte der Arbeitenden ist obendrein im informellen Sektor tätig, nicht sozial- oder rentenversichert und verfügt über keine verbrieften Arbeitsrechte. Für diese Menschen sind López Obradors Sozialleistungen bedeutsamer als gewerkschaftliche Freiheiten und Tarifvereinbarungen. Dennoch sind sich viele Expert*innen einig, dass die Morena-Regierung mit der Arbeitsreform richtige Schritte gegangen ist. „Der institutionelle Wechsel ist auf dem Papier radikal, auch wenn er in der Realität noch nicht umgesetzt wurde”, erklärt Bensusán.
Sollte Sheinbaum die Wahl gewinnen und diesen Weg weitergehen, wird sie als erstes weibliches Staatsoberhaupt nicht nur den Unternehmer*innen, sondern auch den alten Mächtigen in den Gewerkschaften die Stirn bieten müssen.
Autor: Wolf-Dieter Vogel ist Journalist, er lebt und arbeitet in Mexiko.