Near-Shoring nach Rumänien: Ein Tarifvertrag wie ein Leuchtturm
13.12.2024 I Mehr Lohn, besserer Zugang für die Gewerkschaften zu Call Center-Mitarbeiter*innen: Unter dem Dach der Rahmenvereinbarung von UNI Global Union mit dem weltgrößten Outsourcing-Arbeitgeber Teleperformance gelingt in Rumänien ein Abschluss, der Signalwirkung haben dürfte.
„Er ist wie ein Leuchtturm: Er bringt Hoffnung“, sagt Florentin Iancu. Der Präsident der rumänischen IT-Gewerkschaft SITT ist immer noch wahnsinnig stolz auf den Vertrag, den er vor wenigen Wochen mit dem rumänischen Ableger des französischen Call Center- und Outsourcing-Riesen Teleperformance ausgehandelt hat. Es ist der erste Tarifvertrag für die Branche in Rumänien. Möglich geworden ist er auch, weil der Dienstleistungsgewerkschaftsverband UNI Global Union, der mehr als 20 Millionen Beschäftigte in 150 Ländern vertritt, bereits Ende 2022 eine weltweite Rahmenvereinbarung mit dem Konzern geschlossen hat.
„Er ist wie ein Leuchtturm: Er bringt Hoffnung“, sagt Florentin Iancu.
Das rumänische Papier gilt für die 1.200 organisierten Mitarbeiter*innen, die für Teleperformance in dem osteuropäischen Land arbeiten, etwa ein Drittel aller Beschäftigten. Die 50 Seiten mit einer Laufzeit bis Ende 2025 haben es in sich: Der Vertrag sichert ihnen 7 bis 8 Prozent mehr Lohn, zusätzliche Pausen und Essensgutscheine sowie der Gewerkschaft regelmäßigen Zugang zu den Beschäftigten zu. „Der soziale Dialog im Unternehmen kann viel besser organisiert werden“, sagt Iancu. Das ist ihm besonders wichtig, denn über 85 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Homeoffice.
Nicht nur in Rumänien und im Globalen Süden ist die Branche für Wild-West-Methoden, miese Bezahlung und spärlichen Organisationsgrad bekannt. Deshalb hat der Abschluss Vorbildfunktion sogar für die EU, meint der bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zuständige Gewerkschaftssektär Volker Nüsse. Selbst in Deutschland seien Arbeitnehmendenvertreter*innen noch „wesentliche Schritte von der Durchsetzung von Tarifverträgen bei Teleperformance und vielen weiteren Call Centern entfernt“, sagt Nüsse. Stattdessen gebe es „hohe Fluktuation und große Unsicherheit“, auch weil immer wieder Arbeit ins Ausland verlagert werde. „Doch die Kolleg*innen in Rumänien haben gezeigt, dass es auch anders gehen kann“, sagt Nüsse.
Nicht nur der Gewerkschafter freut sich: Die Vereinbarung sei „der Beweis, dass Beschäftigte, die sich zusammenschließen, ihre Arbeitssituation verbessern und sogar eine ganze Branche verändern können“, sagt auch Christy Hoffman, Generalsekretärin von UNI Global Union (siehe S. 4/5).
Rumänien hat sich vor allem seit seinem EU-Beitritt Anfang 2007 zu einem bedeutenden Outsourcing-Standort für westliche Konzerne entwickelt.
Rumänien hat sich vor allem seit seinem EU-Beitritt Anfang 2007 zu einem bedeutenden Outsourcing-Standort für westliche Konzerne entwickelt. Branchenkenner*innen gehen davon aus, dass derzeit mindestens 100.000 Rumäninnen und Rumänen in 250 Firmen in dem Sektor arbeiten, viele nur mit zwei- oder dreimonatigen Zeitverträgen. Im Branchensprech geht es dabei um Business Process Outsourcing (BPO), dem Auslagern von Geschäftsprozessen an externe Dienstleister. Das kann die simple Dateneingabe oder Kund*innenbetreuung am Telefon sein, im Trend ist aber in Rumänien auch die Vergabe von komplexeren Aufgaben wie Akquise oder Finanzbuchhaltung an Drittfirmen.
Hauptgrund für den Rumänien-Boom sind die im Vergleich günstigen Personalkosten. So verdienen die Call Center-Agent*innen hier bei einer 40-Stunden-Woche im Schnitt rund 1.200 Euro netto im Monat. Dabei sind sie relativ gut ausgebildet, wegen ihrer romanischen Muttersprache häufig multilingual einsetzbar, außerdem leben sie in der osteuropäischen Zeitzone und kennen europäische Wertvorstellungen. Für westliche Konzerne können das Vorteile gegenüber noch günstigeren Konkurrent*innen aus Indien oder Pakistan sein. Hinzu kommt, dass Unternehmen inzwischen auch aus Datensicherheitsgründen manche Arbeit lieber nach Osteuropa als nach Asien vergeben – „Near-Shoring“, nennt sich das. Die Beschäftigten bei Teleperformance Romania arbeiten für die finnische Nokia, die französische Atos oder die japanische NTT Data.
Der Tarifvertrag mit Teleperformance macht Furore, hat aber eine unschöne Vorgeschichte: Vor drei Jahren kam heraus, dass der Konzern einige seiner weltweit 420.000 Mitarbeiter*innen zur Installation von Überwachungskameras im Homeoffice gedrängt hatte, angeblich gab es auch Tests mit Lügendetektoren. Das Rahmenabkommen mit UNI Global Union war deshalb auch ein Versuch, wieder Vertrauen zu gewinnen. Sie umfasst ausdrücklich den Zugang der Gewerkschaften zur Belegschaft und die Bildung von Betriebsräten. Grundlage war auch die EU-Richtlinie über Mindestlöhne, die eine Tarifverhandlungsquote von 80 Prozent in einzelnen Branchen anstrebt.
Trotz Tarif: Viele Call Center-Mitarbeiter*innen in Rumänien leiden weiter unter prekärer Bezahlung, unsicheren Jobs und miserabler Behandlung. Im Oktober organisierte Gewerkschaftschef Iancu deshalb einen Protestmarsch durch die Innenstadt von Temeswar. Auf den Plakaten der Demonstrierenden standen Slogans wie „Stoppt Missbrauch, Mobbing und Burnout am Arbeitsplatz“. „Mit dem neuen Tarifvertrag ist einiges besser“, sagt Iancu. „Aber es ist längst noch nicht alles gut“.
Autor: Kai Schöneberg ist Journalist und lebt in Brüssel.