Prekäre Beschäftigung weltweit
Informelle Wirtschaft und Beschäftigung ist vor allem in Ländern des globalen Südens weit verbreitet und in vielen Ländern nach wie vor das Wirtschaftssystem der Mehrheit der Arbeitnehmer_innen. In den meisten Fällen geht es um einfache Tätigkeiten, um Hilfsjobs und Arbeiten für wenige Tage oder Wochen. Gearbeitet wird oft in der Landwirtschaft, aber auch im Dienstleistungsbereich oder in der Industrie. Staatliche Kontrollen und staatliche Regulierung haben keine Handhabe in diesen Sektoren der Wirtschaft. Die Arbeitnehmer_innen drängen vergeblich auf arbeits- und sozialrechtlichen Schutz. Der informelle Sektor steht für prekäre Beschäftigungsverhältnisse.
Aber auch in der formellen Wirtschaft halten prekäre Beschäftigungsbedingungen seit Jahren Einzug. Auch Gewerkschaften in den Industrieländern müssen auf immer wieder neue atypische Beschäftigungsformen oder –strategien der Arbeitgeber reagieren. Dazu zählen Leih- und Zeitarbeit, Outsourcing, Solo-Selbstständigkeit oder Werkvertragsarbeit. Sie sind aber kein Alleinstellungsmerkmal der Industrieländer sondern stellen auch die Arbeitnehmerorganisationen in den Ländern des globalen Südens vor zusätzliche Herausforderungen.
Informelle Arbeit als Massenphänomen
Mehr als 60 Prozent aller Beschäftigten weltweit arbeiten im informellen Sektor. Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind dies rund 2 Milliarden Arbeiternehmer_innen, ein Großteil davon in der Landwirtschaft, vor allem in den Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens.
Diese Jobs haben eines gemeinsam: Mangelnder Sozialschutz, geringe Arbeitsrechte und fehlende menschenwürdige Arbeitsbedingungen. In Afrika arbeiten rund 86 Prozent der Beschäftigten im informellen Sektor, in Asien und im Pazifikraum liegt der Anteil bei etwa 68 Prozent, in den Arabischen Staaten bei 69 Prozent, 40 Prozent auf dem amerikanischen Kontinent und 25 Prozent in Europa und Zentralasien.
Etwa 740 Millionen Frauen arbeiten in der informellen Wirtschaft, die meisten in Ländern mit niedrigem Einkommen. Sie haben weder eine Alters- noch eine Krankenversicherung, können nicht in Mutterschutz gehen. Auch Urlaub und Ruhezeiten gibt es kaum oder gar nicht.
Auch Sklaverei, sklavereiähnliche Bedingungen und Zwangsarbeit sind weltweit weit verbreitet. Mehr als 20 Millionen Menschen leben und arbeiten unter solchen Bedingungen. Gewerkschafter_innen setzen sich global gegen Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung ein.
Informelle Strukturen überwinden
Bildung ist der Schlüssel um informelle Arbeitsstrukturen zu überwinden. Je höher das Bildungsniveau ist, desto geringer ist auch der Anteil Beschäftigter im informellen Sektor. Zudem spielen Ausbildungsmöglichkeiten eine große Rolle.
Vor allem auf dem Land sind die Beschäftigungsraten im informellen Sektor sehr hoch. Die Mehrzahl der Menschen arbeitet nicht freiwillig in der informellen Wirtschaft. Ihnen fehlen die Möglichkeiten in der formellen Wirtschaft tätig zu sein. Andere Existenzgrundlagen haben sie nicht.
Noch in den 1970er und 1980er Jahren ging die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) davon aus, den informellen Sektor langfristig eindämmen zu können. Er sollte in wirtschaftspolitische Strategien der Nationalstaaten einbezogen und so in die "formelle Wirtschaft" überführt werden.
Doch der informelle Sektor wächst. Zugleich schafft sich die formelle Wirtschaft unterstützt von Regierungen spezielle Nischen, in denen sie sich staatlicher Kontrolle entzieht. Multinationale Konzerne und ihre Zulieferer agieren in weltweit entstehenden Sonderwirtschaftszonen, die häufig auch Zonen frei von grundlegenden Arbeitnehmerrechten und Gewerkschaften sind.
Vernetzung und neue Strukturen
Klassische gewerkschaftliche Arbeit – und auch staatliche – Strategien, um gute Arbeit und faire Arbeitsbedingungen zu schaffen, funktionieren häufig nicht im informellen Sektor. Unklare Verhältnisse zwischen Arbeitnehmer_innen und Arbeitgeber_innen, kleinteilige Betriebsstrukturen oder starke Repressionen und "Aussperrungs"-Strategien von Unternehmen erschweren den Einsatz.
Das erfordert neue und weniger klassische Wege des gewerkschaftlichen Organizing. Seit 1972 bringt die indische Organisation Self Employed Women’s Association (SEWA) Frauen zusammen, die im informellen Sektor tätig sind. In Indien arbeiten mehr als 90 Prozent aller Beschäftigten dort. SEWA kämpft für menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen in solchen unsicheren Arbeitsverhältnissen.
Die Organisation hat rund 1,2 Millionen Mitglieder. Sie sieht sich als Verband und Bewegung für die Frauen. Diese können mit Unterstützung rechnen bei rechtlichen Problemen, wenn es um Finanzdienstleistungen geht, um Ausbildung, Gesundheit, Wohnungsbau und soziale Sicherungssysteme.
Prekäre Arbeit in Dauerschleife
Um Personalkosten zu sparen, stellen viele Arbeitgeber_innen ihre Mitarbeiter_innen nur befristet an, manche sogar über Jahre. Andere lagern ganze Aufgabengebiete ihres Unternehmens an preiswertere Subunternehmer aus oder greifen bei Personalnot auf Zeitarbeitsfirmen aus. Für Unternehmer_innen bringen solche Anstellungs- und Beauftragungsmodelle viele Vorteile.
Für die Beschäftigten bedeuten sie unklare Arbeitsverhältnisse, eine meist geringere Bezahlung sowie eine eingeschränkte soziale Absicherung. Für sie gibt es oft keine geregelten Arbeitszeiten. Ein Recht auf Urlaubsgeld, Krankengeld oder andere unternehmensinterne Leistungen haben viele befristet Beschäftigte nicht, im Gegensatz zu Festangestellten.
Hinzu kommt: Sie haben keine Lobby, die sich für ihre Rechte als Arbeitnehmer_innen einsetzt und gemeinsam mit ihnen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen kämpft. Da oft keine Zeit darauf verwendet wird, befristet Beschäftigte einzuarbeiten, kommt es in ihren Reihen auch häufiger zu Verletzungen am Arbeitsplatz.
Scheinselbstständigkeit ist eine weitere Beschäftigungsform, die prekäre Arbeitsbedingungen verschärft. Darunter fällt auch die sogenannte „Gig Economy“. Dazu zählen Selbstständige, die für Lieferdienste arbeiten oder ihr Geld mit Aufträgen auf digitalen Plattformen verdienen. Auch für sie gibt es keine klare arbeitsrechtliche Vertretung um ihre Jobbedingungen zu verbessern. Die fortschreitende Digitalisierung aller Alltagsbereiche sowie die Verlagerung von Dienstleistungen ins Netz befeuern solche Arbeitsmodelle.
Veröffentlicht 12 I 2019