Soziale Absicherung in Indien: Registrierung als Anfang
17.3.2022 I Bis zu 90 Prozent der Inder_innen arbeiten im informellen Sektor. Sie werden kaum gehört und sind meist nicht abgesichert – auch wenn sie Wege gefunden haben, sich zu organisieren. Mit einem zentralen Meldeportal will die Regierung Abhilfe schaffen.
Es seien die kleinen Erfolge, die ihr Hoffnung geben, sagt Fatima Shaikh. Die 41-jährige gebürtige Südinderin sitzt im Treffpunkt der lokalen Frauengewerkschaft LEARN in der westindischen Metropole Mumbai. Das Büro im Slum Dharavi ist Anlaufstelle für Hausangestellte, Bekleidungsarbeiterinnen oder Straßenhändlerinnen. Einen dieser Teilsiege hat Shaikh am Vortag erreicht, als sie den Fall einer Klientin lösen konnte. Die Frau hatte Probleme mit der staatlich subventionierten Lebensmittelzuteilung, weil die Qualität des Getreides sehr schlecht war – über die Hälfte war nicht zu verwenden. Shaikh konnte dem Händler klarmachen, dass er das Getreide umtauschen muss. Dabei half ihr ihre Position als Gewerkschaftsführerin, die sie mit einem Ausweis belegen konnte.
Frauen wie Shaikh und ihre Klientin sind auf subventioniertes Getreide angewiesen. Bis zu 3,5 Kilo davon stehen Familien in Indien pro Monat zu, je nachdem, wie nah sie sich an der Armutsgrenze befinden. Aber nur wer eine Lebensmittelkarte hat, die zugleich als Ausweisdokument gilt, kann diese Hilfe in Anspruch nehmen. Und diese überlebensnotwendige Karte zu bekommen, ist nicht leicht.
Ein anderes Beispiel ist ein Unterstützungsprogramm für Haushälterinnen im westindischen Mahrashtra, das ebenfalls in der Pandemie stark gefragt ist. Auch hier flossen die Hilfen über Datenbanken, in denen informelle Arbeiter_innen registriert sind. Das wiederum ist vielen Bezugsberechtigten nicht klar oder zu mühsam.
An dieser Stelle setzen die Frauen von LEARN Mahila Kamgar Sanghatana (LMKS) an, einer Gewerkschaft, die Frauen im informellen Sektor organisiert und in den westindischen Städten Mumbai und Nashik etwa 8.000 Mitglieder hat, häufig Arbeitsmigrant_innen: Sie klären über die staatlichen Sozialprogramme auf – und zeigen, wie die Frauen ohne teuren Vermittler Zugang dazu haben. Ganz wichtig ist es, sagen sie ihnen immer wieder, dass sie sich registrieren lassen.
Seit Jahren führen die Bundesstaaten diese Listen über die vielen informellen Arbeiter_innen in Indien, die bis zu 90 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachen. Das Problem: Die Dokumente müssen jedes Jahr erneuert werden. Ohne die Hilfe von LMKS ist das ein aufwändiger Prozess.
»Tatsächlich sind es die Frauen, die für die nötige finanzielle Stabilität sorgen.«
»Identitätsdokumente waren schon immer ein Problem für informell Beschäftigte, insbesondere für Migranten, Flüchtlinge und Frauen, die etwa aufgrund von Heirat umziehen”, sagt Indira Gartenberg, Sekretärin von LEARN. Die Aufklärung über Rechte ist ihr Hauptanliegen, das sie seit 2008 verfolgt. Sie weiß, dass die Anerkennung aller Arbeitnehmer_innen einer der Schritte ist, mit denen das ILO-Übereinkommen über Heimarbeit von 1996 umgesetzt werden soll. Deshalb begrüßt sie sehr, dass 2021 ein neues – zentrales – Meldeportal für Arbeiter_innen eingeführt wurde: E-Sharm.
Wenn das Arbeitsministerium Lichtbildausweise ausgebe, sei das auch »ein notwendiger Schritt, um die riesige Zahl der informell Beschäftigten und ihren Beitrag zur indischen Wirtschaft und Gesellschaft sichtbar zu machen«, sagt die Arbeitsforscherin. Denn bislang seien informelle Arbeiter_innen im Wesentlichen unsichtbar und in den meisten politischen Diskussionen und Gesetzgebungsprozessen unterrepräsentiert.
»E-Sharm könnte eines Tages zu einer Formalisierung der informell Beschäftigten führen, die notwendig ist«, hofft Gartenberg. Das wäre die Basis, um weitere Rechte wie existenzsichernde Löhne einzufordern. Auch wenn die Informationen zugleich etwa für Wahlpropaganda missbraucht werden könnten: Die Vorteile überwögen.
Nach Angaben der Regierung haben sich bisher über 260 Millionen Inder_innen von 16 bis 59 Jahren auf dem E-Sharm-Portal angemeldet, das ihnen Leistungen wie einen kostengünstigen Unfallversicherungsschutz verspricht. Das Programm läuft gerade erst an, doch es macht schon den Anteil an arbeitenden Frauen sichtbar. Aus der Praxis wissen Organisationen wie LEARN, dass viel mehr Frauen erwerbstätig sind, als in den Statistiken auftauchen.
»Tatsächlich sind es die Frauen, die für die nötige finanzielle Stabilität sorgen, wenn Männer arbeitslos oder verletzt sind«, erklärt Gartenberg. Ihre Einkommen seien angesichts der Folgen der Pandemie von entscheidender Bedeutung. Denn in den vergangenen beiden Jahren habe die Regierung die informellen Arbeiter_innen nicht ausreichend unterstützt. Oftmals mussten zivilgesellschaftliche Organisationen wie Nichtregierungsorganisationen oder Gewerkschaften einspringen, um die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Während der Pandemie seien Arbeitsbehörden sogar nachlässig geworden und hätten Covid-19 als Vorwand genutzt, um Anträge und Sonderzahlungen zu verzögern.
Shaikh und ihre Kolleginnen vom LMKS lassen sich davon nicht einschüchtern. Im Gegenteil, ihre kleinen Erfolge spornen sie an.
Die Autorin: Natalie Mayroth lebt und arbeitet als Journalistin in Mumbai.