Sozialer Grundschutz weltweit ist finanzierbar
17.03.2022 I Wegen der Corona-Krise haben viele Länder die Sozialleistungen gekürzt. Jetzt sei der Moment, ein neues Sozialschutzsystem aufzubauen, erklärt die Internationale Arbeitsorganisation. Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen bringen eine Idee dafür voran: den Globalen Fonds für Soziale Sicherheit.
Öffentliche Ausgaben für soziale Sicherung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 2020
Nicht einmal jeder zweite Mensch auf der Erde ist durch soziale Grundsicherung geschützt. Der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge werden nur 47 Prozent der Weltbevölkerung durch mindestens eine Sozialschutzleistung vor Verelendung bewahrt. Die regionalen Unterschiede sind enorm: Während in Europa 84 Prozent der Menschen Anspruch auf wenigstens eine Sozialleistung haben, sind es in Asien und dem pazifischen Raum nur 44 Prozent, in Afrika sogar nur 17,4 Prozent. Nur eine von drei Personen mit schweren Handicaps weltweit erhält eine Invalidenleistung, und nur 18,6 Prozent aller Arbeitnehmer_innen weltweit sind gegen Erwerbslosigkeit abgesichert.
Mit der Pandemie ist vor allem im Globalen Süden der vorhandene geringe Sozialschutz noch weiter geschwächt worden. In ihrem Weltbericht zur Sozialen Sicherung 2020-2022 kommt die ILO zu dem Ergebnis, dass die Finanzierungslücke für ein Minimum an sozialer Sicherung durch die Corona-Krise nochmal größer geworden ist – um 30 Prozent. »Jetzt ist ein entscheidender Moment, um die Pandemie für den Aufbau neuer, auf Rechten basierender Sozialschutzsysteme zu nutzen«, sagt ILO-Generaldirektor Guy Ryder.
Das sieht auch Hajo Lanz so, Direktor des UN-Verbindungsbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Genf. »Die Pandemie hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie desaströs die Lage für viele Menschen im Globalen Süden ist«, sagt er. »Die Weltgemeinschaft muss sich diesem Problem stellen.«
Schon 2012 haben die 181 Mitgliedsländer der ILO die Empfehlung Nr. 202 einstimmig verabschiedet, dass in allen Ländern soziale Grundsicherungen verankert werden sollen. Dazu gehören der Anspruch auf eine finanzielle Grundabsicherung für Kinder, für Alte und für Menschen, die zum Beispiel wegen Invalidität, Mutterschaft oder Arbeitslosigkeit kein Einkommen haben, sowie eine Basisgesundheitsversorgung. »Wie das im Detail ausgestaltet ist, bestimmt das jeweilige Land in Entsprechung seiner Rahmenbedingungen«, erklärt Lanz.
Die Global Coalition for Social Protection Floors, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung mitgegründet wurde, hat die ILO-Empfehlung vorangetrieben. Die Koalition besteht mittlerweile aus mehr als 100 Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften. Doch seit 2012 ist wenig geschehen.
»Die Pandemie hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie desaströs die Lage für viele Menschen im Globalen Süden ist. Die Weltgemeinschaft muss sich diesem Problem stellen.«
»Nur ein Prozent der Entwicklungsgelder fließen in soziale Sicherungssysteme«, sagt Lanz. In vielen Staaten gebe es nach wie vor eine gravierende Lücke zwischen dem, worauf die Bürger_innen einen menschenrechtsbasierten Grundanspruch haben, und der Realität. Eine Reihe von Ländern könne diese Lücke – bei vorhandenem politischen Willen – selbst füllen. Mindestens 25 Staaten könnten das aber nicht. Dazu gehörten in erster Linie Ruanda, Niger, Togo, Liberia, Haiti, Guinea-Bissau, Mosambik, Madagaskar, die Zentralafrikanische Republik, Malawi, Burundi und die Demokratische Republik Kongo. »Diese Länder kommen nicht mit eigenen Mitteln aus der Misere«, sagt Lanz.
Solche Staaten brauchen Unterstützung. Darum hat die Mitgliederversammlung der ILO die ILO-Führung im vergangenen Jahr beauftragt, konkrete Vorschläge für einen neuen solidarischen internationalen Finanzierungsmechanismus zu erarbeiten. Die Global Coalition for Social Protection Floors hat dazu bereits einen Vorschlag entwickelt, der von mehr als 200 zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaften weltweit mitgetragen wird: den Global Fund for Social Protection, in deutsch: Globaler Fonds für Soziale Sicherheit. Er ist auch auf der politischen Ebene schon aufgegriffen worden.
Die Bundesregierung will ihn »unterstützen« – das versprechen SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag. Deutschland hat 2022 die G7-Präsidentschaft inne. Sie könnte den Fonds im Kreis der reichsten Industriestaaten voranbringen. Und das könnte Anstoß dafür sein, dass etwa die UNO den globalen Fonds zur Sozialsicherung auf die Tagesordnung setzt. Auch in Frankreich, Belgien, Großbritannien und vielen Ländern des Globalen Südens hat das Konzept viele Befürworter_innen.
Die ILO schätzt, dass weniger als 78 Milliarden US-Dollar jährlich für knapp 50 arme Länder benötigt würden, um soziale Basisschutzsysteme einzurichten. Das ist weniger als das, was Industrieländer an Entwicklungshilfe leisten. Würde sich der Fonds auf die zwölf Länder konzentrieren, die mehr als zehn Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Grundabsicherung benötigen, seien jährlich 15 Milliarden Dollar erforderlich, sagt Lanz: »Das ist ein überschaubarer Rahmen.« Davon profitieren würden rund 150 Millionen Menschen.
Der Fonds könnte von internationaler Seite zum Beispiel durch die Entwicklungsbeiträge der reichen Staaten gespeist werden, aus einer globalen Finanztransaktionssteuer oder mit der Aktivierung der Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds, der Währungsreserven der Organisation. Die Entwicklungsorganisation Oxfam sieht die Super-Reichen in der Pflicht. Nach einer Studie von Oxfam haben aufgrund der hohen Corona-Belastungen mehr als 100 Länder Sozialleistungen gekürzt, während Super-Reiche noch wohlhabender wurden. Die zehn reichsten Personen der Welt besitzen demnach zusammen gewaltige 1.500 Millionen US-Dollar.
Nach den Vorstellungen der Global Coalition for Social Protection Floors und ihrer Unterstützer_innen sollen Empfänger, Geber und auch Vertreter_innen der Zivilgesellschaft an den Entscheidungen über die Geldverteilung beteiligt werden – und sie kontrollieren.
Der Fonds soll die Empfängerländer in die Lage versetzen, die eigenen Ausgaben für soziale Sicherheit schrittweise zu erhöhen. »Das Hauptgewicht liegt darauf, im Land selbst Gelder zu mobilisieren«, erklärt Lanz. Die Idee: Länder sollen nach einer Anschubfinanzierung durch den Fonds selbst für die soziale Sicherung aufkommen. Das könnte durch effizienter eingetriebene oder höhere Steuern, Maßnahmen gegen Kapitalflucht oder Korruption geschehen – je nach Lage des Landes.
Lanz plädiert dafür, dass der Fonds mit einer Konvention flankiert wird, mit der die ILO-Empfehlung zur sozialen Sicherung von 2012 einen verbindlichen Charakter bekommen würde. Ratifizieren Staaten die Konvention, könnten Bürger_innen soziale Sicherungen einklagen.
Autorin: Anja Krüger arbeitet als Journalistin in Berlin.