Hersteller und Händler in die Pflicht nehmen!
13.06.2023 I Lieferkettengesetze und ein UN-Abkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten könnten Druck machen, damit die Textil- und Bekleidungsindustrie nachhaltiger wird. Aber noch etwas steht in Frage: die Überproduktion.
Ein Kommentar von Apoorva Kaiwar, Regionalsekretärin von IndustriALL in Südasien.
Die Covid-Pandemie hat deutlich gemacht, wie wenig nachhaltig die globale Textil- und Bekleidungsindustrie arbeitet. Als das Virus im März/April 2020 Geschäfte, Städte und Länder lahm legte, bedeutete dies für die Beschäftigten in den exportierenden Staaten, dass ihre Löhne gestrichen, ihre Arbeitsplätze abgebaut wurden. Milliardenschwere Einzelhandelsunternehmen und millionenschwere Hersteller behaupteten, sie könnten die Beschäftigten nicht für die Zeit bezahlen, in denen sie aufgrund von staatlich verhängten Schließungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit nicht arbeiten konnten.
Wie können wir eine Branche als „nachhaltig“ bezeichnen, wenn die Lohnsumme eines Monats das Gleichgewicht nach jahrzehntelanger Gewinnerzielung kippen kann? Zumal die Gewinne trotz der Pandemie sehr hoch blieben. Um nur die zweier großer Konzerne zu nennen: Associated British Foods, denen Primark gehört, meldeten 2020 einen Jahresgewinn von fast 1,3 Milliarden US-Dollar vor Steuern, die H&M-Gruppe machte einen Betriebsgewinn von 363 Millionen US-Dollar.
Dass die Bekleidungsindustrie ihre Beschäftigten trotzdem so schlecht behandeln kann, hat vor allem zwei Gründe: 80 Prozent der hier Arbeitenden sind Frauen, während es weltweit in der verarbeitenden Industrie insgesamt nur ein Drittel sind. Arbeitsplätze, an denen mehrheitlich Frauen beschäftigt sind, sind in der Regel durch niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, Risiken für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie Gewalt und Belästigung gekennzeichnet.
Zugleich ist die Bekleidungsindustrie arbeitsintensiv, sie erfordert weniger Investitionen und benötigt kaum Technologie. Weil die Wertschöpfung geringer ist, hat sich die Branche im Globalen Süden konzentriert. In Ländern wie Bangladesch trägt die Konfektionsindustrie 84 Prozent zu den Gesamtexporten bei. Das gibt den Herstellern eine starke Position beim Lobbyieren – und hat zu arbeitgeberfreundlichen Politiken geführt, einschließlich der Festsetzung von Mindestlöhnen auf einem sehr niedrigen Niveau, das den Arbeitnehmer_innen kein menschenwürdiges Leben garantiert. Wegen der oft auch hohen Arbeitslosigkeit in diesen Ländern arbeiten die Beschäftigten in prekären, schlecht bezahlten Jobs. Aus der daraus resultierenden Angst heraus bleiben sie den Gewerkschaften fern, die ihnen helfen könnten, gegen die Ausbeutung anzugehen.
Wenn ein globaler Wirtschaftszweig wie die Bekleidungsindustrie nachhaltig sein soll, muss dies bedeuten, dass er in seiner gesamten Lieferkette diesen Prinzipien folgt. Für den Baumwollanbau bedeutet dies neben angemessenen Löhnen für die Landarbeiter_innen, dass sichergestellt werden muss, dass das für den Anbau verwendete Wasser der Gemeinschaft nicht das Trinkwasser entzieht. In der verarbeitenden Industrie, in der die Mitglieder der IndustriALL-Mitgliedsorganisationen arbeiten, bedeutet Nachhaltigkeit menschenwürdige Arbeit für die Beschäftigten und die Bewältigung von Problemen der Wasserverschmutzung durch Fabrikabfälle.
Das ist herausfordernd, aber deswegen können wir als Gesellschaft uns noch lange nicht drücken. Die Verantwortung für die Arbeit an der Nachhaltigkeit liegt in erster Linie bei den großen Einzelhändlern, die die mit Abstand größten Gewinne einheimsen. Sie müssen diejenigen sein, die für Nachhaltigkeit zahlen und daran arbeiten.
Sorgfaltspflichtgesetze wie das deutsche können in gewissem Maße dazu beitragen, die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, da Deutschland weiterhin einer der großen Märkte für europäische Marken ist. Die Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft in Deutschland müssen für eine wirksame Umsetzung eintreten.
Aber noch etwas anderes ist wichtig: In den Debatten fehlt oft die Frage, warum wir überhaupt so viel produzieren? Es gibt genügend Beweise dafür, dass eine Überproduktion enorme negative Auswirkungen auf die Umwelt hat – und auch auf die Arbeitsbedingungen. Denn die Arbeitnehmer_innen werden unter Druck gesetzt, die Produktionsziele zu erreichen, auch wenn das sehr lange Arbeitszeiten erfordert.
Das Interesse der Arbeitnehmer_innen ist aber mehr Lebensqualität. Als Gewerkschaften müssen wir uns für eine Politik einsetzen, die diese gewährleisten kann. Wir müssen die Überproduktion in Frage stellen, kürzere Arbeitszeiten, angemessene Löhne und gute Arbeitsbedingungen fordern. Nur so können wir auch die massive Ungleichheit, die die Welt plagt, zumindest bis zu einem gewissen Grad bekämpfen.
Globale Gewerkschaften, darunter IndustriALL, fordern einen verbindlichen UN-Vertrag über Wirtschaft und Menschenrechte. Die Beratungen laufen bereits seit fast 10 Jahren. Sie müssen zu einem erfolgreichen Abschluss kommen!
Kommentatorin: Apoorva Kaiwar ist Regionalsekretärin von IndustriALL in Südasien.