Vorreiter Philippinen: Milliardenbranche ohne Gute Arbeit
13.12.2024 I Für internationale Konzerne sind die Philippinen ein beliebter Standort für ausgelagerte Geschäftsbereiche, auch deutsche Firmen machen mit. Denn die Regierung in Manila fördert die Ansiedlung mit viel Geld. Davon kommt bei den Beschäftigten wenig an. Sie klagen über geringe Löhne, viel Druck und mangelnde Jobsicherheit. Ein gewerkschaftliches Netzwerk soll helfen. Die Herausforderung ist groß: Das Land gilt als eines der schlimmsten für Arbeitnehmerrechte weltweit.
Es ist erst früher Vormittag in Manila, doch Mylene Cabalona wirkt erschöpft. Ihre Nachtschicht ist gerade zu Ende. Und das letzte Telefonat vor dem verdienten Feierabend, in diesem Fall -morgen, hat sich lange hingezogen. Cabalona arbeitet in einem Call Center. Und sie ist die Präsidentin von BIEN. Die Abkürzung steht für BPO Industry Employee‘s Network – eine Art Gewerkschaft in einem Bereich, in dem es offiziell keine gewerkschaftliche Organisation gibt. Sie versteht sich als direkte Interessenvertretung der Beschäftigten.
„Seit 2010 arbeite ich in dem Sektor“, sagt Cabalona. Nahezu ebenso lange gibt es BIEN. Das Netzwerk setzt sich nicht nur mit den Arbeitgebern auseinander, es will auch die Öffentlichkeit aufklären: über die Schattenseiten einer Branche, die enorme Profite abwirft, während die an der Basis tätigen Menschen um ihren gerechten Anteil betrogen werden. Auch deshalb ist Cabalona immer wieder in den USA und Europa zu Gast und gewährt Einblicke hinter die Kulissen.
BPO ist ein Milliardengeschäft. Schon vor Jahren verfielen vor allem US-Konzerne auf die Idee, den Kundendienst über Call Center nach Indien auszugliedern – mit immenser Ersparnis an Personalkosten. Inzwischen sind es immer mehr Leistungen von Datenverarbeitung und Softwareentwicklung bis zur Buchhaltung, die sich vom teuren Europa und Nordamerika in den Globalen Süden verlagern lassen. Hauptdestination des Trends sind die Philippinen. Ein mehrheitlich katholischer Inselstaat, erst spanisch kolonisiert, dann ab 1898 bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg US-Kolonie. Dass mit Blick auf jene Ära Englisch zweite Verkehrssprache ist, wirkt sich neben hoher Alphabetisierung und gutem Bildungssystem als Standortvorteil aus.
Die US-amerikanische Nexford University hat aktuelle Zahlen zusammengestellt und sieht ein „exponentielles Wachstum“: Zwischen acht und zehn Prozent lege der Sektor jährlich zu, der etwa 1,3 Millionen Filipinos in mehr als 1.000 Firmen umfasst. Die Philippinen haben damit heute schätzungsweise einen Anteil von etwa 20 Prozent am globalen BPO-Markt.
Die Universität verweist darauf, dass der Staat die Branche seit mehr als 20 Jahren fördert: Ab 2001 haben Regierungen damit erst die hohe Arbeitslosigkeit zu drücken versucht, nach 2021 ging es darum, Wirtschaftseinbrüche infolge der Corona-Pandemie zu kompensieren. Die Firmen operieren zumeist in extra eingerichteten Sonderwirtschaftszonen mit staatlich errichteter Infrastruktur, genießen verminderte Steuern, reduzierte Einfuhrzölle auf Ausrüstung und andere finanzielle Vorteile. Das philippinische Arbeitsrecht gilt zumindest pro forma landesweit ohne Einschränkungen, auch in Sonderwirtschaftszonen.
Auch deutsche Konzerne sind längst auf den Outsourcing-Zug aufgesprungen. Das Chemie- und Pharmaunternehmen Merck hat sein BPO-Tochterunternehmen in Bonifacio Global City angesiedelt. Das gehört zu Makati, dem wichtigsten Wirtschafts- und Finanzzentrum in der Metropolregion Manila. Dass es nicht der Kernbereich der Megacity sein muss, zeigen andere Standorte, etwa Lufthansa Services Philippines in Alabang ganz am Stadtrand. Die Tochter von Mercedes-Benz residiert sogar in Cebu City, einer Metropole in der zentral gelegenen Region der Visayas auf den Philippinen.
„Die Branche macht acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus“, sagt Gewerkschafterin Mylene Cabalona. Mit 35 Milliarden US-Dollar habe sie „sogar die Remittances übertroffen“ – das sind die Heimatüberweisungen der vielen im Ausland arbeitenden Filipinos. Die Beschäftigten profitierten aber nicht vom Boom der Branche: 13.000 bis 16.000 Pesos (230 bis 285 Euro) betrage der Monatslohn in Manila, andernorts würden zum Teil nur 8.000 Pesos gezahlt. „Eine gerechte Lohnsteigerung ist das zentrale Thema“, so Cabalona.
Doch das bleibe vorerst Illusion. Gewerkschaftliche Organisation ist auf den Philippinen schwierig. Wer sich für Arbeitnehmendenrechte einsetzt, lebt gefährlich: „Es herrscht eine Atmosphäre der Einschüchterung.“ Cabalona selbst ist mehrfach bedroht worden, ein Kollege verbrachte schon einmal zehn Tage unter Arrest.
In den klimatisierten Büros seien die Arbeitsbedingungen meist prekär: „Es gibt keine Jobsicherheit, man kann uns jederzeit ersetzen. KI ist ein zunehmendes Thema. Und es gibt Monitoringsysteme, die überwachen, wie ,effizient‘ wir arbeiten.“ Das erzeuge enormen Druck. In dem Sektor seien mehrheitlich Frauen beschäftigt, Fälle sexueller Belästigung und mangelnder Schutz für Schwangere gehörten für viele zum Alltag. Cabaolona kennt zwar nicht jede BPO-Firma genauer. Doch dass es bei den deutschen Töchtern deutlich besser zugehe als bei anderen, lasse sich nicht sagen: „In der Branche insgesamt gibt es viele Probleme.“ Eine Belastung für die Beschäftigten sei zum Beispiel der Fahrtweg, der in Manila oft bis zu zwei Stunden dauere. Das Netz des Öffentlichen Nahverkehrs ist dünn, und die wenigen Linien sind oft überlastet oder fallen ganz aus.
Autor: Thomas Berger ist Journalist, lebt in Brandenburg und ist immer wieder in Süd- und Südostasien unterwegs.