„Wir sind auf maximale Vernetzung angewiesen!“
02.09.2024 I Das Lieferkettengesetz bietet Gewerkschaften gute Möglichkeiten, gute und nachhaltige Arbeitsbedingungen weltweit durchzusetzen. Die müssen aber auch genutzt werden, ein guter Ansatz wäre ein Menschenrechtskomitee sagt Christian Weis, Gewerkschaftssekretär im IG Metall Vorstand, Funktionsbereich Betriebspolitik.
Gespräch: Leon Raabe, Michael Reck, Sarah Mewes
Welche Potenziale bietet das Lieferkettengesetz (deutschen) Gewerkschafter*innen, um sich für gute und nachhaltige Arbeitsbedingungen weltweit einzusetzen?
Das Gesetz bietet das erste Mal eine gute Möglichkeit für die Betriebsräte, in dieser Debatte mitzuwirken. Denn bisher haben Fragen zu Lieferketten in deren Arbeit keine große Rolle gespielt. Es ging immer mehr um die Fragen nach den Unternehmens-, Standort- und Arbeitnehmer*inneninteressen.
Wie gut vorbereitet sind die Gewerkschaften auf das Thema?
Das Interesse, sich Lieferketten genauer anzuschauen, gab es schon vor dem Lieferkettengesetz, seit den 1990er Jahren. Die IG Metall und unser globaler Dachverband IndustriALL Global haben diese Bewegung mitgeprägt und mit deutschen Konzernen Globale Rahmenvereinbarungen (GRV) geschlossen. Darin sind einige internationale Kernarbeitsnormen der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) und Ansätze für Sorgfaltspflichten der Konzerne vertraglich festgehalten. Der Abschluss dieser Vereinbarungen ist jedoch freiwillig und bei Verstößen manchmal nicht wirkmächtig genug.
Wie hilft das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz?
Mit dem deutschen und dem europäischen Lieferkettengesetz wird dieser Mechanismus weiter ausgebaut. Für Arbeiter*innen weltweit gibt es zum ersten Mal den rechtlichen Anspruch, mit den Konzernen in Kontakt zu treten und auf Verstöße im eigenen Geschäftsbereich und in der Lieferkette hinzuweisen. Gleichzeitig gibt es eine Verpflichtung der Unternehmen, sich den Hinweisen und Verstößen anzunehmen. Mit diesem Paradigmenwechsel geht ein enormes Potential einher, Menschenrechte in den Lieferketten besser durchzusetzen und den Arbeiter*innen einklagbare Rechte zuzusichern, die sie bisher in diesem Umfang noch nicht hatten.
Das Gesetz enthält nun Beschwerdemechanismen, über die Verstöße gemeldet – und nach Möglichkeit abgestellt werden können. Was können BRs konkret machen, um diese Mechanismen umzusetzen? Wie funktioniert das konkret?
Mit dem neuen Lieferkettengesetz geht ein Informations- und Konsultationsanspruch einher, der die Betriebsräte bei der Umsetzung der Sorgfaltspflichten im Konzern einbeziehen muss. Im Lieferkettengesetz wird der Wirtschaftsausschuss genannt, ein Ausschuss des Betriebsrats. Der im Zuge des Lieferkettengesetzes angepasste Paragraf 106 des Betriebsverfassungsgesetzes verpflichtet das Management dazu, in diesem Gremium Auskunft über unternehmerischen Sorgfaltspflichten und dem Risikomanagement in den Lieferketten zu geben. So können Betriebsräte in den Dialog mit dem Arbeitgeber treten. Weiterhin können sich die Mitbestimmungsträger bei der Errichtung eines Risikomanagementsystems mit ihren Themen einbringen. Viele der Umsetzungsschritte des Gesetzes sind mitbestimmungspflichtig. Das bedeutet, dass nur mit der Unterschrift des Betriebsrates bestimmte Maßnahmen, wie zum Beispiel die Einführung eines internen Beschwerdemechanismus, rechtlich wirksam werden. Deshalb schulen wir als Gewerkschaft die BRs darin, aktiver zu werden, und unterstützen sie bei der mitbestimmten Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in Konzernen.
Wie können die BRs das Lieferkettengesetz noch für gute Arbeit nutzen?
Um das Lieferkettengesetz in den Unternehmen umzusetzen, sehen wir die BRs ganz vorne dabei, mitzugestalten und mitzubestimmen. Das ist zum Beispiel bei der Formulierung der menschenrechtlichen Grundsatzerklärung der Fall, aber auch bei der Planung von Maßnahmen, um Verstöße in der Lieferkette abzustellen. In diesem Zusammenhang schlagen wir als IG Metall ein freiwillig vereinbartes und paritätisch besetztes Menschenrechtskomitee vor. Dort sollen Betriebsräte mit der Arbeitgeberseite alle Phasen der Sorgfaltspflichten mitsteuern und damit bei der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen mitwirken. Weiterhin sollen die Betriebsräte in alle Prozesse der Umsetzung des Gesetzes im Unternehmen eingebunden werden und sowohl beim Monitoring als auch bei der regelmäßigen Berichterstattung mitwirken. Das alles versuchen wir gerade in einigen Pilotunternehmen umzusetzen. Es geht bei Fragen der Lieferkette auch darum, für den Mehrwert der Mitbestimmung bei den Betriebsräten zu werben, damit diese in Zukunft auch angenommen werden.
Was müsste sich in Zukunft ändern, damit das Lieferkettengesetz besser umgesetzt wird?
Kein Akteur kann allein die Komplexität von Lieferketten analysieren. Es sind unterschiedlichste Expertisen gefragt, auch innergewerkschaftlich, um Hinweise zu geben wie die Beiträge von Gewerkschaften und Betriebsräten in Zukunft aussehen können. Für einen guten Informationsfluss in Bezug auf die Lieferkettengesetze braucht es eine stärkere Koordinierung von Einzelgewerkschaften in Deutschland, Europa und global. Das liegt daran, dass Lieferketten global gesehen wesentlich komplexer sind als innerhalb Deutschlands. Was in Deutschland beispielsweise von der IG Metall organisiert wird, wird in anderen Ländern von der Dienstleistungs- oder einer anderen Branchengewerkschaft erledigt. Das heißt: Wir brauchen mehr Abstimmungs- und Koordinierungsarbeit des DGB für die verschiedenen Einzelfragen. Und es müssen europäische und globale Prozesse entwickelt werden, die einen systematischen Umgang mit Einzelbeschwerden ermöglichen, Verantwortlichkeiten klar zuweisen und die Bearbeitung der Beschwerden gewährleisten.
Wie kann die Zivilgesellschaft eingebunden werden?
Es sollte außerdem ein vertrauensvoller und kollegialer Rahmen für die enge Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen geschaffen werden Die Kooperation könnte in einem ähnlich regelmäßigen Rahmen stattfinden wie zwischen den Gewerkschaften und sich ebenfalls um anfallende Einzelfragen aus den Unternehmen und Beschwerden kümmern. Da wünschen wir uns eine möglichst dichte Vernetzung beim Thema Lieferkettengesetz!
Wieso sollten sich deutsche BRs für Nachhaltigkeit, bessere Arbeitsbedingungen im Globalen Süden und für eine Umsetzung des Lieferkettengesetzes interessieren?
Es besteht die Gefahr, dass Betriebsräte im Verlauf des Nachhaltigkeitsprozesses der Unternehmen abgehängt werden, wenn sie dieses Zukunftsthema nicht als Standardaufgabe definieren. Das Lieferkettengesetz sollten die Betriebsräte ebenfalls zentral aufgreifen. Nur so können sie ihrem Gestaltungsanspruch gerecht werden. Wegen der vielen gesetzlichen Vorgaben schätze ich, dass die Betriebsräte zum Thema der Nachhaltigkeit ganz erheblichen Einfluss haben werden – auf die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen in Deutschland und weltweit.
Das ist aber noch nicht bei allen Betriebsräten präsent?
Wir müssen jeden einzelnen Betriebsrat erreichen: Ein Betriebsrat ist gewählt und hat ein Mandat. Dieses ist örtlich auf den Betrieb begrenzt, in dem er seine Wählerschaft hat. Dass ein Betriebsrat also betriebsübergreifend agiert und sich mit anderen Betriebsräten in Deutschland, in Europa und global oder mit weiteren Akteuren vernetzt, ist kein Selbstläufer. Die Vernetzung über den eigenen Standort hinaus ist absolut zentral. So erlangen die Betriebsräte mehr Macht und Möglichkeiten, um im Konzern zu steuern und mitzugestalten. Sie können Gefahren frühzeitig erkennen, die sie als Betriebsrat am Standort gar nicht überblicken könnten. Die Erfahrung von transnational vernetzten Betriebsräten in den großen Konzernen zeigt uns, dass sie oft über Dinge früher Bescheid wissen als das deutsche Management. Damit haben unsere Betriebsräte andere Möglichkeiten zu agieren und sind in der Lage, rechtzeitig Gefahren abzuwenden z.B. in Bezug auf die Einhaltung des Lieferkettengesetzes. Damit kann verhindert werden, dass beispielsweise Investoren oder Kunden abspringen oder dem Unternehmen rechtliche Folgen drohen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, die wiederrum die hiesige Beschäftigung gefährden.
Man könnte also sagen, dass ein solidarisches Handeln in Bezug auf Lieferketten einen gewissen Selbstschutz darstellt?
Solidarität spielt eine Rolle. Allerdings ist das Konzept der gewerkschaftlichen Solidarität erneuerungsbedürftig. Es ist wegen des Drucks auf die Gewerkschaften durch die Unternehmen – Stichwort Standortkonkurrenz – nicht immer belastbar. Deshalb sehe ich Solidarität eher als ein zu erarbeitendes Ziel. Durch die Vernetzung, die wir seit mehr als drei Dekaden voranbringen, sollen sich diese Netzwerke bilden, die am Ende solidarisch zusammenstehen. Aber ich bin vorsichtig: Wir sehen eine Phase der Renationalisierung der Politik und wir haben Angriffe auf das Globale allerorten. Und es wird immer schwieriger, diese Solidarität mitzuorganisieren. Oft ist sich jeder selbst am nächsten. Dasselbe lässt sich auf die Lieferkette übertragen: Hauptsache die Kollegen im eigenen Betrieb vor Ort sind nicht betroffen. Dem müssen und können wir etwas entgegensetzen. Das geht, indem wir internationale Netzwerke stärken und ein Klima der fruchtbaren Zusammenarbeit schaffen, in dem wir realisieren, dass wir gemeinsam stärker sind.
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Der Interviewte, Christian Weis, ist Gewerkschaftssekretär im Vorstand der IG Metall und arbeitet dort im Bereich Betriebspolitik und im Ressort für Unternehmenspolitik und transnationale Konzerne. Dort wird die Arbeit mit überbetrieblichen Gremien, das heißt Gesamtbetriebsräte (GBR), Konzernbetriebsräte (KBR) und Europäische Betriebsräte (EBR) organisiert. Es werden einzelne Betriebsratsgremien und die IG Metall Geschäftsstellen zu aktuellen betriebspolitischen Themen beraten, gestärkt und vernetzt. In seinem Bereich gibt es Weiterbildungen zum Lieferkettengesetz. So wird bei den Mitarbeitenden ein Bewusstsein geschaffen: Wie können BR einen Beitrag leisten, um der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht von Unternehmen weltweit nachzukommen. Hierzu betreut Christian auch einige GBR/KBR/EBR in Pilotunternehmen um mit ihnen das Lieferkettengesetz mitbestimmt umzusetzen. Daneben arbeitet Christian in der Krisenintervention. Wenn Existenzen durch Restrukturierungen, Arbeitsplatzabbau, Betriebsschließungen, Insolvenzen oder Verlagerung von Produktionsstandorten bedroht sind, unterstützt er die Mitbestimmungsgremien in den Unternehmen.
Diese Interview ist Teil des Projekts „Die globale sozial-ökologische Transformation – eine Veranstaltungsreihe zur Rolle der Gewerkschaften“ der ver.di GPB und NELA (Next Economy Lab) und wurde von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Postcodelotterie gefördert. Mehr Informationen – Aufzeichnungen der Keynote-Vorträge, sowie der im Projekt veranstalteten Online-Podiumsdiskussionen – findet ihr hier.