
„Gewerkschaften müssen Allianzen schmieden“
Um Arbeiter_innen vor allem aus dem informellen Sektor zu schützen, fordert Gewerkschaftsexpertin Jane Barrett von Wiego mehr Anstrengungen von der internationalen Staatengemeinschaft und von weltweiten Bündnissen.
Nord | Süd news: Arbeitszeiten sind seit Jahrzehnten ein Problem- und Streitfall für Unternehmen, Arbeitgeber_innen, Arbeitnehmer_innen und Organisationen weltweit. Gibt es nicht genug international geltende Regeln, um Menschen vor Ausbeutung zu schützen?
Jane Barrett: An Regelwerken fehlt es nicht, um Arbeitszeiten zu regulieren. Aber diese Regeln werden nicht überall in die nationale Gesetzgebung implementiert. Hinzu kommt, dass die Belegschaft im Unternehmen nicht ausreichend informiert, angehört und geschützt wird. Dieses Problem verschärft sich derzeit, da Tätigkeiten zunehmend an Subunternehmer ausgelagert werden. Menschen, die unter solchen Bedingungen arbeiten, sehen sich häufig nicht in der Lage, auf ihre Rechte zu drängen und scheuen sich, sich zu beschweren. Häufig sind gerade diese Mitarbeiter_innen nicht über Gewerkschaften organisiert und damit schutzlos.
Die erste Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 1919 bezog sich auf die Arbeitszeiten in der Industrie. Den Beteiligten war klar, dass die Produktivität der Arbeiter_innen über solche Regeln verbessert werden konnte. In den vergangenen rund 100 Jahren ist dann viel passiert. 43 Konventionen und Empfehlungen wurden von der ILO verabschiedet, die Arbeitszeiten, Urlaub, Nachtarbeit, Teilzeit oder Ruhezeiten nach Schichtarbeit im Blick haben.
Frauen sind besonders betroffen. Warum?
Solange weiterhin große Ungleichheit herrscht zwischen Männern und Frauen beim Thema Sorgearbeit, müssen Frauen sich zwischen bezahlter Arbeitszeit und unbezahlter Zeit für Haushalt, Kinder und Familie entscheiden. Wenn sie lange arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, schrumpft die freie Zeit, die Frauen zur Erholung haben, schließlich müssen sie sich auch noch um die Hausarbeit kümmern. Diese Geschlechterungleichheit sorgt auch dafür, dass Frauen sich scheuen, sich freizunehmen, um Angehörige zu pflegen oder sich um die Kinder zu kümmern.
Hat sich die Lage in den vergangenen Jahren verschlechtert oder gar verbessert?
Eine grundlegende Verbesserung der Arbeitszeiten für Frauen gibt es nicht. Zwar gibt es mehr Jobs, die als flexibler bezeichnet werden. Zum Beispiel im Verkauf, in der Gastronomie, generell im Dienstleistungssektor. Doch dort, wo möglichst viel Flexibilität gefragt ist, ist der Lohn häufig sehr gering. Die Arbeiter_innen sind somit gezwungen sich einen zweiten oder gar dritten Job zu suchen. Manche Frauen arbeiten heute länger als je zuvor, allerdings verteilt auf mehrere Auftraggeber.
Vor allem im informellen Sektor sind die Arbeitszeiten eine Herausforderung. Welche Probleme haben die Arbeiter_innen?
Über 60 Prozent aller Arbeitnehmer_innen weltweit sind im informellen Sektor tätig. Zum einen fallen unter diese Einstufung Arbeiter_innen, die für ein Unternehmen in der formellen Wirtschaft arbeiten, das sich nicht an internationale Regelungen etwa zur Begrenzung der Arbeitszeiten hält. Da immer mehr Arbeitnehmer_innen als Sub-Unternehmer_innen arbeiten, wird es zunehmend schwierig, dafür zu sorgen, dass die Regelwerke eingehalten werden. Zum anderen gibt es informelle Arbeiter_innen, die selbstständig tätig sind. Unternehmer kann man sie nicht nennen, da sie weder Zugang zu Krediten haben, noch regelmäßig einen angemessenen Lohn einnehmen. Meist hängen sie vom Wohlwollen der Gemeinde ab, von Behörden, die ihnen erlauben, überhaupt ihren Jobs im öffentlichen Raum nachzugehen. Typische informelle Arbeiter_innen sind Straßenverkäufer oder Müllsammler.
Wie könnte eine Lösung für diese Menschen aussehen?
Arbeiter_innen, die im informellen Sektor arbeiten, weil ihr Arbeitgeber sich nicht an Gesetze hält, muss man über Regelwerke stärken. Die Auftraggeber_innen müssen dazu gezwungen werden, ihre Zustimmung zu internationalen Arbeitsstandards zu geben. Auch juristische Schritte sollte man nicht ausschließen. Für selbstständige Arbeiter_innen ist die Lage weit komplizierter. Von ihnen wird letztlich mehr Eigeninitiative verlangt. Zugleich ist es unfair und auch unrealistisch, zu erwarten, dass sie freiwillig weniger arbeiten und damit auch auf Geld verzichten. Also müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Zum Beispiel könnte man mit der Gemeinde oder den städtischen Behörden verhandeln, dass es sichere Lagerräume für die Waren der Straßenverkäufer gibt, oder die Versorgung der Händler mit Wasser und Sanitäranlagen zu verbessern. Mit höheren Löhnen müssten sie weniger arbeiten.
Welche Rolle haben die Gewerkschaften?
Eine der wichtigsten Aufgaben der Gewerkschaften ist es die informellen Arbeiter_innen überhaupt als Arbeiter_innen zu akzeptieren. Zugleich müssen sie die Strukturen der informellen Arbeiter_innen respektieren. In vielen Fällen handelt es sich nicht um eigene Gewerkschaften, aber um sehr ähnlich aufgebaute Organisationsstrukturen. Auf der ganzen Welt kämpfen solche Bündnisse für mehr Rechte für ihre Mitglieder. Doch die Gewerkschaften beachten sie nur wenig oder gar nicht. Dabei sollten sie Allianzen schmieden. In – vor allem – afrikanischen Staaten gibt es bereits solche Allianzen innerhalb der Gewerkschaften, die informellen Arbeiter_innen sind quasi eine Abteilung innerhalb der gesamten Organisation.
Welche internationalen Bemühungen gibt es, um informellen Arbeiter_innen zu helfen?
Es gibt einige wenige internationale Organisation. So vertritt zum Beispiel StreetNet International Partnerverbände aus über 50 Staaten. WIEGO (Women in Informal Employment Globalising and Organizing), die Organisation für die ich arbeite, bietet Arbeiter_innen organisatorische und politische Unterstützung an.
Das Interview führte Tanja Tricarico.