Bergbau gegen Menschenrechte: Landkonflikte im Norden von Brasilien
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil.
26.02.2021 I In der Region Carajás im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará herrscht ein unerbittlicher Landkonflikt. 20 Landarbeiter_innen wurden zuletzt durch Gummigeschosse verletzt. Das Sicherheitsunternehmen Prosegur und die Bergbaugesellschaft Vale behaupten, sich verteidigt zu haben.
Ein Mädchen, nicht älter als 5, zeigt weinend die Wunde auf ihrem Arm. Dort traf sie das Gummigeschoss. Eine ältere Frau schiebt ihre grauen Haaren zur Seite. Sie wurde im Gesicht getroffen wurde, die Verletzung blutet immer noch. Ein junger Mann zieht sein Hemd hoch. Auf dem Rücken sind geschwollene Wunden zu sehen.
Es ist die schmerzhafte Bilanz eines brutalen Angriffs. Ende Juni 2020 griffen private Sicherheitskräfte des Bergbauriesen Vale Landarbeiter_innen auf dem Gelände der Lagoa-Farm an. Diese befindet sich in der Nähe der Stadt Parauapebas im nördlichen Bundesstaat Pará. Ungefähr 150 Menschen waren gerade bei einem Gottesdienst, als sie plötzlich von Gummigeschossen und Tränengasgranaten überrascht wurden. Mindestens 20 Landarbeiter_innen wurden verletzt.
Es war nicht das erste Mal, dass die von Vale beauftragte Sicherheitsfirma Prosegur gegen Kleinbäuer_innen in der Region vorgeht. Die Nachbarstadt Canaã dos Carajás war Schauplatz von mindestens zwei weiteren gewaltsamen Angriffen durch die Sicherheitskräfte. Im Jahr 2017 wurden vier Mitarbeiter von Prosegur angeklagt. Sie sollen einen Landarbeiter und seinen Sohn angegriffen haben, deren Land an das Territorium von Vale grenzte. Der börsendotierte Konzern ist der weltweit größte Exporteur von Eisenerz. Ein Jahr zuvor beschossen Vale-Sicherheitsmänner eine Gruppe Landarbeiter_innen auf der São Luíz-Farm an. In Folge dessen wurden 300 kleinbäuerliche Familien vertrieben. Vale rechtfertigte sich, dass die Kleinbäuer_innen zuvor ihr Grundstück besetzt hatten.
Bauern und Bäuerinnen protestieren gegen das gewalttätige Vorgehen von Beamten der Sicherheitsfirma Prosegur, die der Mineralkonzern Vale mit der Kontrolle der Anwohner_innen beauftragt hat.
Laut Giliad Silva, Professor und Spezialist für Agrarentwicklung, ist Gewalt Alltag in der Region. Und Vale heize die Situation an: „Was dort passiert, ist nur die Spitze eines größeren Problems. Der Staat nimmt solche kriminellen Handlungen auf die leichte Schulter und ist eng mit der Strategie des Konzerns verbunden, die Produktion auszuweiten.“ Doch woher kommt die Gewalt? Es ist ein alter Konflikt zwischen Vale und Kleinbauern. Dem Großkonzern wird vorgeworfen, auf illegale Weise Land erworben zu haben, das im Besitz des Bundes war. Vale bestreitet das.
Für Luiz Jardim, Geograph an der Universidade Federal Fluminense (UFF) in Rio de Janeiro, hat der Bergbau die Land- und Einkommenskonzentration sowie bewaffnete Konflikte im Südosten von Pará verschärft. „Die Formen der Landaneignung sind vielfältig. In einigen Fällen ist Vale der Besitzer. In anderen Fällen kommt es zu Landspekulation durch große lokale Geschäftsleute, die Milizen bewaffnet haben“, sagt Jardim, der eine Studie zu Agrarkonflikten und Bergbau in Partnerschaft mit der Landpastorale CPT koordiniert.
„Ich dachte, dass ich sterben werde.“
„Vale hat viel Geld und Macht und kann machen es will. Wir wollen nur, dass unsere Rechte respektiert werden“, sagte Viviane Oliveira gegenüber Repórter Brasil. Oliveira ist Präsidentin des Verbandes der landwirtschaftlichen Familienarbeiter (Fetraf) in Pará und war bei dem jüngsten Angriff dabei. „Es war schon Nacht, als wir die Schüsse hörten. Alle rannten raus, um sich zu verstecken. Als der Lärm der Kugeln nachließ, hörte ich die Kinder weinen, mitten im Wald. Ich dachte, dass ich sterben werde. Obwohl wir die Hände in die Luft hielten, riefen sie 'Hebe deine Hände, Schlampe' und sagten 'Renn, ich werde dich erschießen'. Dann schossen sie auf den Boden neben mir, um mich zu foltern.“
Die Sicherheitskräfte von Vale erklärten, in „Selbstverteidigung“ gehandelt zu haben. Sie seien gerufen worden, nachdem die Gruppe Landarbeiter_innen auf das Gelände vorgedrungen war und versucht haben soll, illegal Strom anzuzapfen. Das Bergbauunternehmen Vale erklärte außerdem, dass seine Mitarbeiter „von einer Gruppe von ungefähr 40 Personen beschossen wurde“. Die Kleinbäuer_innen bestreiten das. Oliveira meint: „Niemand von uns war bewaffnet.“
Die Situation beruhigte sich erst, als die Militärpolizei auf das Gelände vorfuhr. Die Landarbeiter_innen stellten Anzeige. Der Fall wird nun von der Bundespolizei und der Behörde für Agrarkonflikte untersucht. Die Staatsanwaltschaft hat ein Verfahren eingeleitet. Und der Verband der landwirtschaftlichen Familienarbeiter Fetraf meldete den Angriff beim Nationalen Menschenrechtsrat.
Räumungsstopp gefordert
Der Angriff kam überraschend, denn: Im Jahr 2019 wurde ein Abkommen zwischen den Landarbeiterorganisationen, Vale und dem Staat unterzeichnet. Das Ziel: soziale Spannungen und Agrarkonflikte in besetzten Gebieten abbauen. „Aufgrund dieser Vereinbarung waren wir sehr überrascht, dass es zu dem Angriff kam. Alle Angelegenheiten müssen nun am Verhandlungstisch geregelt werden“, fordert Andreia Silvério, Anwältin der Landpastorale CPT.
Die Vereinbarung legte eigentlich auch Bedingungen fest, um die Familien umzusiedeln. Doch das ist bis heute nicht passiert und wird von Vale vor Gericht angefochten. Laut dem Staatlichen Institut für Landreform (Incra) gehört die Lagoa-Farm dem Bergbaukonzern Vale und ist nicht für das nationale Agrarreformprogramm qualifiziert. Das sehen die ländlichen Bewegungen anders. Laut Tony Araújo, dem Anwalt der Fetraf, ist das Gebiet Teil des Bundes. Vale habe lediglich eine einstweilige Verfügung. Araújo fordert einen Räumungsstopp, während über den Fall verhandelt wird. Mehr noch: Den dort lebenden Familien sollte es weiterhin gestattet sein, Maniokmehl, Gemüse und Obst auf dem Markt der Stadt Parauapebas zu verkaufen.
Die Kleinbäuer_innen beschuldigen Vale nicht nur Vereinbarungen zu missachten. Am Tag des Angriffs habe ein Vertreter des Bergbauunternehmens den Anwohner_innen versichert, dass Vorfälle in Zukunft vermieden werden – und ließ die Kleinbäuer_innen bei dem Treffen von einer Drohne überwachen. Vale äußerte sich nicht zu den Vorwürfen.
Der Konzern Vale behauptet, ihre Sicherheitsleute hätten aus Notwehr gehandelt. Die Anwohner_innen sagen jedoch, dass niemand von ihnen bewaffnet war.
Höhere Produktion, mehr Angriffe?
Das Gebiet der Lagoa-Farm liegt in der Nähe der 900 Kilometer langen Eisenbahnstrecke von Carajás. Pro Jahr werden rund 120 Millionen Tonnen Eisenerz auf den Schienen transportiert, die von Carajás zum Hafen von Ponta da Madeira in São Luís im Bundesstaat Maranhão führen. Die Eisenbahn ist von großer Bedeutung für das Exportmodell von Vale, dessen Hauptkunde China ist.
Laut Giliad Silva, Professor für Agrarentwicklung, ist es das Ziel von Vale, die Produktion in Pará zu steigern, um Verluste für zwei Unglücke auszugleichen: Die Dammbrüche von Mariana und Brumadinho. 2015 war nahe der Kleinstadt Mariana im Bundesstaat Minas Gerais der Damm einer Eisenerzmine gebrochen. Damals starben 19 Menschen, Tausende wurden obdachlos. 2019 brach in Brumadinho, ebenfalls in Minas Gerais, das Rückhaltebecken einer Mine und eine tödliche Mischung aus zwölf Millionen Kubikmeter Wasser, Geröll und Schlamm rollte über Häuser und Menschen hinweg. 272 Menschen starben.
Nach dem Staudammbruch in Brumadinho kündigte Vale an, die Produktion im Süden von Carajás um 70 Prozent zu steigern. Die Produktion soll von 90 Millionen Tonnen pro Jahr auf 150 Millionen Tonnen Eisenerz ansteigen, wie internationale Investoren mitteilten. Die potenziellen Gebiete für die wirtschaftliche Ausbeutung befinden sich in hart umkämpften Gebieten. So auch die São Luíz-Farm, Schauplatz des letzten Angriffs. Dort lebten 300 Familien. Vale verklagte die Kleinbäuer_innen nun wegen vermeintlicher Umweltverbrechen, da sie in ein Naturschutzgebiet eingedrungen seien. Ein Bauer wurde verurteilt.
Eine dubiose Sicherheitsfirma
Die Sicherheitsfirma Prosegur teilte Reporter Brasil mit, dass seine Mitarbeiter sowohl im Fall der São Luiz-Farm als auch im Fall der Lagoa-Farm „in Selbstverteidigung“ und „im Rahmen der Regeln für private Sicherheitsaktivitäten“ gehandelt hätten. Laut dem Anwalt der Landpastorale hätten die Sicherheitsmänner jedoch keine Befugnis gehabt, in dieser Situation einzugreifen.
Prosegur ist das größte private Sicherheitsunternehmen Brasiliens und eines der größten Sicherheitskonzerne der Welt. Die Firma wurde in Spanien gegründet und beschäftigt 160.000 Mitarbeiter in 26 Ländern. In Brasilien werden ihr eine Reihe von Rechtsverletzungen vorgeworfen. Im nördlichen Bundesstaat Maranhão soll das Unternehmen in ein Betrugsnetz über die staatlichen Corona-Nothilfen verwickelt sein. Zudem wird dem Unternehmen vorgeworfen, nicht die erforderlichen Vorkehrungen getroffen zu haben, um seine Mitarbeiter vor der Coronavirus-Pandemie zu schützen. Die Staatsanwaltschaft forderte umgerechnet rund 1,5 Millionen Euro Schadensersatz.
In Rio Grande do Norte wurde Prosegur im Jahr 2016 verurteilt, umgerechnet rund 150.000 Euro zu bezahlen, weil sie Pausen und Ruhezeiten ihrer Mitarbeiter ignoriert haben soll. In Pará wiederum wurde Prosegur nach einer Sammelklage von 600 ehemaligen Mitarbeiter_innen verurteilt, eine Entschädigung von umgerechnet rund 1.200.000 Millionen Euro zu zahlen.
Prosegur wollte gegenüber Reporter Brasil die Anschuldigungen der Kleinbauern nicht kommentieren, dass Stunden vor dem Angriff ein Vale-Vertreter eine friedliche Lösung des Konflikts versprochen hatte. Das Unternehmen beantwortete auch nicht die Frage, ob es den Befehl des letzten Angriffs erteilte und äußerte sich ebenfalls nicht zu anderen gewalttätigen Episoden in Besetzungen im Südosten von Pará.
Die MST meldete sich in einer Stellungnahme zu Wort. Der jüngste Angriff zeige, wie Gewalt in Pará als Instrument eingesetzt werde, um zu verhindern, dass Arbeiter ihr Recht auf Land einfordern. „Das Aussetzen der Agrarreform und das Fehlen staatlicher Initiativen zur Lösung von Konflikten sind ganz klar für diesen und andere Landkonflikte in Brasilien verantwortlich.“ Andreia Silvério, Anwältin der Landpastorale, fordert, alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. „Eine so schwerwiegende Menschenrechtsverletzung kann nicht ungestraft bleiben.“
Autorinnen: Maurício Angelo
Übersetzung/Redaktion Februar 2021: Niklas Franzen
Hinweis: Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Der Originaltext erschien am 27.06.2020.
Zum Weiterlesen:
https://taz.de/Prozesse-wegen-Dammbruch-in-Brasilien/!5743141/
Diese Reportage wurde mit Unterstützung des DGB-Bildungswerk BUND im Rahmen des Projekts Gewerkschaften in Lateinamerika stärken – Ungleichheit bekämpfen produziert und aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Für den Inhalt der Reportage ist ausschließlich Repórter Brasil verantwortlich.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.