Lateinamerika »Rassismus ist ein Gewerkschaftsthema«
1.9.2022 I Fremdenfeindlichkeit, Xenophobie und Intoleranz sind ein Gewerkschaftsthema, sagt PSI-Koordinatorin Agripina Hurtado. Meist sei der erste Schritt das Sichtbarmachen von Diskriminierung und die Benennung von diskriminierten Gruppen.
Nord | Süd news: Agripina Hurtado, in Lateinamerika und der Karibik leben mehr als 134 Millionen Nachfahren afrostämmiger Völker. Sie stellen ein Fünftel der Bevölkerung. Aber ein Großteil der afrostämmigen Kinder muss bereits in der Grundschule die schulische Bildung abbrechen, Jugendliche sind deutlich stärker von Armut, Arbeitslosigkeit und sogar Suizid betroffen als der Durchschnitt der Lateinamerikaner_innen – und das durchzieht das ganze Leben. Woher kommt diese Diskriminierung?
Agripina Hurtado: Die Diskriminierung ist strukturell, ihre Ursachen liegen in der Kolonial- und Sklavengesellschaft und werden von den Eltern an die Kinder weitervererbt. Verschärft wird sie durch geschlechtsspezifische, ethnisch-rassische, territoriale und altersbedingte Ungleichheiten. Das alles bildet zusammen mit Polizei- und Rassengewalt eine Matrix für Armut, Ausgrenzung und Arbeits- und Lohndiskriminierung. Es ist eine Diskriminierung, die auch für die indigenen Gemeinschaften oder Ureinwohner_innen gilt.
Welche Ansätze gibt es, dieses komplexe Geflecht aufzulösen?
Die Organisationen der Zivilgesellschaft von afrostämmigen und indigenen Völkern wachsen und werden stärker, wenn auch sehr langsam. Die Anerkennung internationaler Vereinbarungen, wie etwa der ILO-Konventionen ist ein erster Fortschritt. Oft ist es aber der fehlende politische Wille der nationalen Regierungen, im eigenen Land dann auch Maßnahmen umzusetzen, die afrostämmige und indigene Bevölkerungsgruppen als Rechtssubjekte sichtbar machen und anerkennen. Die Herrschenden beispielsweise in der Karibik haben zwar einen afrostämmigen Hintergrund, aber dort spielt die Korruption eine derart mächtige Rolle, dass jeder Fortschritt verhindert wird.
Wie entstand dann das Komitee zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beim globalen Gewerkschaftsverbund Public Services International, PSI, das Du koordinierst?
2001 fand in Durban in Südafrika eine Weltkonferenz gegen Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit statt. Das war so eine Initialzündung. Dort sprach man erstmals von Menschen afrikanischer Abstammung. Und auch darüber, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein Gewerkschaftsthema sein müssen, weil Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ethnischen Zugehörigkeit beim Zugang zu einer würdigen Arbeit diskriminiert werden. Einer der Mitorganisatoren der Konferenz war William Lucy, der 1994 als erster Schwarzer zum Vorsitzenden von PSI gewählt worden war. 2004 entstand auf seine Initiative das Komitee.
Wie arbeitet das Komitee?
Unser Komitee besteht aus afrostämmigen und indigenen Personen. Wir kennen Rassismus aus eigener Erfahrung und den Erfahrungen unserer Communities. Unser Ziel ist es, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und alle damit zusammenhängenden Formen von Diskriminierung und Intoleranz in der Arbeitswelt sichtbar zu machen und zu bekämpfen. Dazu haben wir einen regionalen Aktionsplan aufgestellt. Wir führen Schulungen mit den Beschäftigten zu den ILO-Standards durch. Wir melden uns öffentlich zu Wort, wenn Situationen von Rassismus auftreten. Und wir haben auch einen Kalender mit Gedenkterminen aufgestellt, weil diese immer wieder ein guter Anlass sind, unsere Arbeit sichtbar zu machen.
Welche Erfolge hat die Arbeit bereits gehabt?
In Kolumbien gehörten wir zur interethnischen Kommission des Friedensprozesses zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerillaorganisation FARC. Seit Beginn der Pandemie arbeiten wir weltweit mit anderen Organisationen aus Amerika, Afrika und Europa, um die überproportionale Betroffenheit afrostämmiger und indigener Beschäftigter aufzuzeigen. So konnten wir zeigen, wie sich die sozialen Ungleichheiten verstärken, und Strategien entwickeln, um den Zugang zu Impfstoffen zu verbessern und das Gesundheitspersonal zu unterstützen.
Wie gut ist die Unterstützung aus dem eigenen Lager, sprich aus den Gewerkschaften?
Bei vielen ist noch immer nicht angekommen, dass Rassismus, Xenophobie und alle damit verbundenen Formen von Diskriminierung ein Thema der Gewerkschaftsarbeit sind. Eine Sensibilisierung dafür muss an der Basis aber auch in den Führungen der Gewerkschaftsorganisationen ansetzen. Alle Gewerkschaftsorganisationen brauchen Komitees zur Bekämpfung von Rassismus. Unser Komitee hat innerhalb des PSI jede Unterstützung. Mit einer einzigen, leider wichtigen Beschränkung: dass wir kein eigenes Budget haben.
Die Interviewte: Agripina Hurtado ist Koordinatorin des Komitees zur Bekämpfung von Rassismus, Xenophobie und allen Formen von Diskriminierung des Gewerkschaftsverbunds Public Services International (PSI), sie lebt in Cali, Kolumbien.
Der Autor: Jürgen Vogt ist Journalist und lebt in Buenos Aires