Guter Stoff - Wo steht der Arbeitskampf in der Textilbranche?
13.06.2023 I Nach dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza gelobte die Branche Besserung. Auch gab es neue Vorgaben. Die Lieferketten: transparenter. Die Menschenrechte: gestärkt. Dennoch: Probleme sind geblieben.
Wie ein Kartenhaus fiel das 8-stöckige Fabrikgebäude Rana Plaza nordwestlich von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, am 24. April 2013 in sich zusammen. Die Bilder von riesigen Schutthaufen und verzweifelten Frauen und Männern mit Fotos von Vermissten in ihren Händen gingen um die Welt. Mehr als 1.100 Menschen starben, viele mehr wurden verletzt. Die meisten von ihnen hatten in dem Gebäude für große europäische und amerikanische Marken die neueste Mode genäht.
Amirul Amin, Präsident der Bekleidungsgewerkschaft National Garment Workers Federation (NGWF) in Bangladesch, will bis heute nicht von einem Unfall sprechen. „Der Einsturz war Mord“, sagt er im Gespräch mit den Nord-Süd-News. Denn die Beschäftigten hätten schon lange vorher auf die Risse in den Decken hingewiesen, Fabrikbesitzer wie Abnehmer sich dafür aber nicht interessiert.
Es war nicht die erste Katastrophe dieser Art, das Ausmaß aber machte international Schlagzeilen. An den gut organisierten Gewerkschaften in Bangladesch sei fortan niemand mehr vorbeigekommen, sagt Amin. Sie hätten schon 2012 den großen Modemarken ein Abkommen zur Gebäudesicherheit vorgeschlagen. Damals ohne Erfolg. Nach Rana Plaza änderte sich das.
Mit dem Abkommen über Brandschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesch, kurz: „Bangladesch Accord“, entstand erstmals eine verbindliche Vereinbarung mit der Bekleidungsindustrie. Sicherheitsstandards haben sich seither stark verbessert. 190 Unternehmen sind dabei und können rechtlich belangt werden, wenn sie ihre Versprechen nicht einhalten. Dennoch: Viele Probleme bleiben.
Die Entschädigung von umgerechnet etwa 2.000 US-Dollar, die damals an Überlebende des Einsturzes gezahlt wurde, hätte meist nicht einmal die Arztkosten getragen, sagt Amin: „Wir kämpfen noch immer für eine faire Entschädigung.“ Gerichtsprozesse in Bangladesch und Deutschland sind gescheitert. Im Bangladesch Accord konnten Gewerkschaften keine Arbeitsschutz- oder Unfallversicherung durchsetzen. Auch eine soziale Sicherung fehlt.
Zudem liegen die Löhne weit unter einem existenzsichernden Level. „Die Marken geben den Druck an die Fabrikbesitzer weiter, Menschenrechte einzuhalten. Gleichzeitig verlangen sie günstige Preise”, meint Amin. Das gehe nicht zusammen. Viele Unternehmen in Bangladesch zahlen laut einer Studie der britischen Aberdeen Universität von Januar 2023 sogar so geringe Preise, dass nicht einmal die Produktionskosten gedeckt sind. In den anderen großen Produktionsländern wie Pakistan, Kambodscha, Sri Lanka, Myanmar oder Vietnam sieht es nicht besser aus.
Doch hatte der Bangladesch Accord Auswirkungen weit über das Land hinaus. 2021 folgte das Internationale Abkommen für Gesundheit und Sicherheit in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Zusätzlich soll es länderspezifische Programme geben. Seit Anfang 2023 gilt bereits eines in Pakistan. Und langfristig soll es auch um faire Löhne oder das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung geben, sagt die stellvertretende Generalsekretärin von UNI Global Union, Alke Boessiger.
"Die Marken geben den Druck an die Fabrikbesitzer weiter, Menschenrechte einzuhalten. Gleichzeitig verlangen sie günstige Preise."
Amirul Amin, NGWF
Der Schock über untragbare Zustände in den Textilfabriken stärkte zudem die Bemühungen von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NRO), verbindliche Sorgfaltspflichten für Unternehmen auch in anderen Branchen etwa in der Lebensmittelindustrie oder im Bergbau zu erkämpfen. Lange Zeit hatte die Politik auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft gesetzt, um ausbeuterische Geschäftspraktiken in der Lieferkette zu beenden. Es half wenig.
Frankreich führte als einziges Land schon 2017 gesetzliche Sorgfaltspflichten ein, Deutschland folgte erst 2021 und nimmt auch nur größere Unternehmen in die Pflicht. Dafür wird derzeit auf europäischer Ebene ein Lieferkettengesetz verhandelt, mit dem Unternehmen die Menschenrechte in den Blick nehmen und regelmäßige Risikoanalysen machen müssten. Opfer von Verstößen gegen Standards sollen auch klagen können. Noch müssen die EU-Mitgliedsstaaten im Rat zustimmen.
Wie stark so ein Gesetz am Ende wird, hänge aber davon ab, wer die Lieferketten unter die Lupe nimmt, meint Boessiger – und warnt: „Viele Unternehmen lagern das einfach aus an Consulting Firmen oder Rechtsanwaltskanzleien.” Was diese für einwandfrei halten, müsse es aus Sicht von Gewerkschaften längst nicht sein. Darum müssten sie selbst von Anfang an mit einbezogen werden. Dafür müssten jetzt allerdings auch Kapazitäten und Strukturen aufgebaut werden.
Es gibt zu tun. Zum Beispiel stammt immer noch etwa ein Fünftel der weltweiten Baumwolle aus der Region Xinjiang im Nordwesten Chinas. Sie wird dort von der muslimischen Minderheit der Uiguren gepflückt – laut dem Center for Global Policy in Washington, das Regierungsdokumente und Berichte staatlicher chinesischer Medien auswertet, in Zwangsarbeit. China bestreitet das.
Große Textilunternehmen geben derweil an, keine Baumwolle mehr aus der chinesischen Provinz zu beziehen. Rechercheur_innen des Reportageformats STRG_F vom Norddeutschen Rundfunk ließen vor kurzem allerdings Kleidungsstücke von Adidas, Hugo Boss und Puma in einem Labor analysieren. Sie fanden klare Hinweise auf Baumwolle aus Xinjiang. Die Firmen erklärten die Vorwürfe für nicht zutreffend. Aber auch US-Senator_innen forderten bereits Adidas, Nike und andere dazu auf, sich zu Baumwolle aus Xinjiang zu äußern. Die USA, selbst Baumwolllieferant, haben Baumwollimporte aus Xinjiang schon 2021 verboten.
Dieser Boykott zeigt erste Wirkungen. Laut Zahlen des US-amerikanischen Landwirtschaftsministeriums hat Xinjiang die Baumwollproduktion im Jahr 2022 im Vergleich zum Jahr zuvor erhöht, die Exporte sind aber leicht gesunken. Textilunternehmen beziehen jetzt mehr Baumwolle aus den USA und Brasilien und scheinen genauer hinzusehen, wie gearbeitet wird. Mit Gesetzen ändert sich etwas – Schritt für Schritt. Unternehmen müssen nun ihre Lieferketten kennen und kontrollieren. Der nächste Schritt wäre, dass Unternehmen sie komplett offenlegen würden, meint Boessiger.
Die Gewerkschaften werden nicht locker lassen, auch in den Produktionsländern nicht. Ihre globale Vernetzung ist in den letzten zehn Jahren stärker geworden. Gewerkschafter Amin ruft am Ende auf: „Alle Arbeiter_innen entlang der Lieferkette müssen sich vereinen!”
Autorin: Leila van Rinsum beschäftigt sich als Journalistin in Berlin mit Internationalem Handel und Entwicklungspolitik.