Kampf um die Landwirtschaft: Der Hunger wächst
31.08.2023 I Wissenschaftlich ist längst klar, was sich im Ernährungssystem ändern müsste. Doch die Wirtschaftsstrukturen blockieren eine solche Entwicklung.
>> zum Newsletter anmelden NORD I SÜD news II/2023 - Kampf um die Landwirtschaft
Null Hunger im Jahr 2030 – das wollte die Weltgemeinschaft erreichen, als sie ihre Ziele für eine nachhaltige Entwicklung verabschiedete. Doch das wird nichts. Im Gegenteil: Die Zahlen steigen. Offiziell sind gegenwärtig 735 Millionen Menschen weltweit betroffen, mehr als jede und jeder elfte.
Im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit ist das eine deutliche Verschlechterung, Entspannung nicht in Sicht: Die Klimaerhitzung nimmt zu, immer häufiger vernichten Dürren und Überschwemmungen die Ernten. Auch der Krieg gegen die Ukraine verschärft die Krise: Die dortigen Landwirt_innen werden in diesem Jahr weniger als halb so viel Getreide und Ölsaaten ernten wie vor dem russischen Überfall. Hinzu kommt, dass Russland erneut versucht, den Export zu unterbinden. Viele afrikanische Länder sind auf die Lieferungen angewiesen, um ihre Bevölkerung zu ernähren.
Die sich überlagernden Krisen drohen jedoch den Blick auf die dauerhaften Ursachen der weltweiten Unter- und Mangelernährung zu verstellen. Am stärksten unter Hunger leiden ausgerechnet Bevölkerungsgruppen, die auf dem Land leben. Internationale Investoren suchten insbesondere seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 nach sicheren Anlagemöglichkeiten. Weil Grund und Boden ein unvermehrbares Gut ist und damit als sichere Anlage erscheint, kauften sie riesige Landflächen. Darauf lassen sie nun vor allem profitable Energie- und Futterpflanzen sowie Obst, Gemüse und Blumen für den Export anbauen. Auch Fondsgesellschaften, Finanzspekulanten sowie chinesische Staatsfirmen haben massiv zum „Landgrabbing“ beigetragen.
Für die ansässige Bevölkerung bedeutet dies, dass ihre Lebensgrundlagen zerstört werden. Nur wenige finden Arbeit auf den hochindustriell arbeitenden Plantagen. Weil sie keinen Platz mehr haben, um ihre Nahrung selbst anzubauen, ziehen immer mehr Menschen in die Städte und versuchen dort, sich irgendwie durchzuschlagen. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass im Globalen Süden 70 Prozent der Menschen im sogenannten informellen Sektor arbeiten, also ohne Vertrag, geregelte Einkünfte und Arbeitszeiten. Formelle Stellen gibt es in vielen Ländern lediglich im öffentlichen Dienst und bei internationalen Großunternehmen.
»Nur wenige finden Arbeit
auf den hochindustriell
arbeitenden Plantagen.«
Zwar ist akuter Hunger in den Städten weniger verbreitet als auf dem Land. Dafür macht sich dort ein anderes Ernährungsproblem mit erschreckender Geschwindigkeit breit: Übergewicht und Adipositas. Ursache sind hochindustriell hergestellte Lebensmittel, die viel Zucker als billigen Füllstoff enthalten. Die kalorienhaltige Fertignahrung kostet nicht nur weniger als frisches Gemüse und Obst. Sie muss auch nur kurz aufgewärmt werden oder lässt sich gleich so in den Mund schieben. Für Menschen mit mehreren schlecht bezahlten Jobs und wenig Zeit ist das praktisch. Die Weltbank schätzt, dass bereits zwei Milliarden Menschen an Fettleibigkeit leiden. Seit 1995 hat sich die Zahl verdreifacht. Nicht nur für die Betroffenen bedeutet das viel Leid. Weil die Gesundheitssysteme durch immer mehr Herz-Kreislauferkrankungen und Gelenkprobleme stark belastet werden, sind auch die volkswirtschaftlichen Kosten enorm hoch.
Profiteure dieser Entwicklung sind vor allem Firmen wie Nestlé und Unilever. Auch in der Fleischverarbeitung und im Lebensmittel-Einzelhandel gibt es starke Konzentrationsprozesse. Fast alle Konzernzentralen haben ihre Sitze im Globalen Norden – und so fließen die Gewinne dorthin. Dagegen verschwinden immer mehr örtliche Unternehmen, die dem Preisdruck der Giganten nicht standhalten können. Entsprechend gehen auch viele Arbeitsplätze verloren.
Bereits 2008 haben rund 400 Wissenschaftler_innen und Expert_innen den Weltagrarbericht erarbeitet. Sie kommen zu dem eindeutigen Ergebnis: Weiter wie bisher ist keine Option. Die immer wieder aufgetischte Argumentation, dass eine wachsende Menschheit ausschließlich mit einer industriellen Landwirtschaft ernährt werden kann, ist falsch. Deren Produktionsmengen lassen sich nur erzielen mit Hilfe von viel Agrochemie, künstlicher Bewässerung und extrem energieaufwändig hergestelltem Stickstoff-Dünger. Diese Wirtschaftsweise ruiniert nicht nur das Klima – etwa ein Drittel der Treibhausgase ist auf unser heutiges Ernährungssystem zurückzuführen. Auch Humusgehalt und Wasserhaltefähigkeit der Böden sinken dramatisch, Erosion breitet sich aus.
Was aber ist die Alternative? Die Autor_innen des Weltagrarberichts plädieren für eine kleinteilige, vielfältige, regional angepasste Produktionsweise. Ähnliches fordert die IUL, die globale Gewerkschaft für Lebensmittel, Landwirtschaft, Hotels und mehr. Sie hat auch einen Leitfaden veröffentlicht, wie sich Gewerkschaften in ihrem jeweiligen Kontext für eine sozial-ökologische Transformation des Sektors einsetzen können.
Tatsächlich erzeugen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen immer noch 70 Prozent aller Nahrungsmittel weltweit. Viele Farmen haben weniger Fläche als zwei Hektar und dienen überwiegend der Selbstversorgung. Zusätzlich verkaufen die Familienbetriebe meist kleinere Mengen auf dem regionalen Markt. Doch auch hier lässt sich vielfach beobachten, dass Böden übernutzt sind und die Erträge schrumpfen. Nötig wäre die Anwendung agrarökologischer Methoden wie Mulchen, Mist- und Kompostwirtschaft, um die dauerhafte Fruchtbarkeit der Böden wieder herzustellen und zu erhalten. Eine solche Agrarwirtschaft braucht nicht nur entsprechende Bildungsprogramme, sondern im Alltag auch viel mehr Hände als die industrielle Produktionsweise.
Doch selbst eine wachsende Menschheit ist ernährbar, ohne den Planeten weiter zu ruinieren. Das ist die gute Botschaft der EAT-Lancet-Kommission, an der 37 Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen beteiligt waren. Allerdings müsste sich dafür nicht nur in der Landwirtschaft sehr vieles ändern, sondern auch bei den Konsument_innen. Die Kommission listet in ihrem ersten Bericht von 2019 genau auf, was bei einer weltweit gerechten Verteilung jeden Tag im Durchschnitt auf dem Teller liegen könnte. Das sind neben 14 Gramm Rind- oder Schweinefleisch sowie 29 Gramm Geflügel vor allem Hülsenfrüchte, Nüsse sowie Gemüse.
Natürlich braucht ein Schwerarbeiter mehr Essen als ein Baby. Doch als Orientierung ist der „Speiseplan für Mensch und Erde“ sehr brauchbar. Auch positive Rückwirkungen auf die Landwirtschaft hat die Kommission mit einkalkuliert. Bohnen und Erbsen sind nicht nur proteinreich für die Essenden. Die Hülsenfrüchte erledigen in Kooperation mit Bakterien auch leicht und lautlos, was in der Chemiefabrik mit extrem viel Energieaufwand geschieht: die Herstellung von Stickstoffdünger. Für 2024 ist übrigens der EAT-Lancet-Report 2.0 angekündigt, der auch Übergangswege zu einer nachhaltigeren und gerechteren Landwirtschaft bewertet.
Autorin: Annette Jensen lebt als Journalistin in Berlin und befasst sich mit Wirtschaft, Umwelt und der notwendigen Transformation.