Argentinien: »Mit dieser Regierung gibt es keinen Dialog«
24.04.2024 I In Argentinien wird der gewerkschaftliche Organisierungsgrad auf 35 Prozent der arbeitenden Bevölkerung geschätzt – so hoch wie in ganz Amerika sonst nur in Brasilien und Uruguay. Doch auf den Präsidenten, den Rechtspopulisten Javier Milei, könnten die Gewerkschaften nicht zählen, wohl aber auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen, Studierende und Kirchen, sagt Gewerkschafter Adolfo Aguirre.
Nord | Süd news: Adolfo Aguirre, der libertäre argentinische Präsident Javier Milei war gerade 45 Tage im Amt, als die Gewerkschaften am 24. Januar ihren ersten Generalstreik machten. Wieso ging das so schnell?
Adolfo Aguirre: Der Präsident hat ein Dekret mit Änderungen und Reformen erlassen, das de facto auf eine Verfassungsreform hinausläuft. Ein Kapitel schränkt nicht nur das Streikrecht und die Gewerkschaftsfreiheit ein. Es sieht auch Änderungen vor, die gegen internationale Normen und Abkommen verstoßen, die Argentinien als Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ratifiziert hat. Derzeit ist dieses Kapitel durch eine einstweilige Verfügung außer Kraft. Das ist zunächst ein Etappensieg. Jetzt muss der Oberste Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit überprüfen.
Dennoch scheinen die Gewerkschaften in der Defensive. Milei hat verlangt, in Ministerien, Behörden, staatlichen Einrichtungen 15 Prozent der Stellen zu streichen. Behörden oder Institute werden geschlossen oder auslaufende Verträge nicht verlängert.
Nach einem Regierungswechsel wird immer ein Teil des Personals ausgetauscht, und wichtige Posten werden mit den eigenen Leuten der neuen Regierung besetzt. Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Dazu hat es immer einen Dialog zwischen Regierung und Gewerkschaften gegeben. Die Lösung bestand in der Regel darin, die Arbeitsplätze mittels einer befristeten Verlängerung der Arbeitsverträge zu erhalten. Mit dieser Regierung gibt es keinen Dialog, weder mit Präsident Milei noch mit den einzelnen Ministerien.
Warum verweigert die Regierung den Dialog?
Mileis rigorose Sparpolitik und sein Hass auf alles Staatliche machen es unmöglich. Der Präsident nutzt sie zugleich, um Angst zu verbreiten und Solidaritätsaktionen zu verhindern. Niemand weiß, ob er auf der Kündigungsliste steht, denn die Betroffenen erfahren erst mit dem Kündigungsbescheid, dass sie nicht mehr beschäftigt sind. Für die Gewerkschaften geht es jetzt darum, diesen Konflikt mit Protestaktionen öffentlich sichtbar zu machen.
Gewerkschafter*in zu sein, ist oft gefährlich. Wie ist das in Argentinien?
Während der letzten Militärdiktatur 1976 bis 1983 war die Aggression der dominanten Klasse direkt auf die Eliminierung der Gewerkschaften gerichtet. Die Zahl der Opfer ist hoch. Es wird geschätzt, dass 60 Prozent der Verschwundenen Gewerkschafter*innen oder Gewerkschaftsmitglieder waren. Seit der Rückkehr
zur Demokratie wurde das Kräftemessen in Arbeitsrechts- oder Tarifkonflikten ohne Kugeln, ohne Verfolgung, aber auch ohne Stigmatisierung geführt. Unter der neuen Regierung nehmen jedoch die Angriffe gerade in Form von Stigmatisierungen zu.
2023 feierte Argentinien den 40. Jahrestag der Rückkehr zur Demokratie. Seit 1983 ist das Militär zurück in den Kasernen. Wahlergebnisse werden anerkannt und haben wiederholt zu Regierungswechseln geführt. Ist die Demokratie inzwischen gefestigt?
Die Bevölkerung hat Regierungen ins Amt gewählt und auch wieder abgewählt. Dennoch, egal wer die jeweilige Wahl gewinnt, die Sieger sind immer die wirklichen Eigentümer des Reichtums des Landes, die Bergbauunternehmen und die Agrarexporteure. Auch wenn es im Laufe der Jahre Änderungen gegeben hat, wurde das nie in Frage gestellt. In einem Land, in dem mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt und die Arbeitslosigkeit steigt, müsste die Verteilung des Reichtums zur Debatte stehen.
Und doch hat Javier Milei die Präsidentschaftswahl gerade mit den Stimmen aus den ärmeren Schichten gewonnen.
Ich hätte mir nie vorstellen können, dass wir eines Tages von einem selbsternannten Anarchokapitalisten regiert werden würden. Offensichtlich gibt es aber einen Wandel in der Bevölkerung, die bei der letzten Wahl eine Linie überschritten hat, die sie vor einigen Jahren noch nicht überschritten hätte. Die These, dass sich das Volk niemals irrt, eignet sich offensichtlich nicht für die Epoche, in der wir leben.
Auf welche Verbündeten können die Gewerkschaften zählen?
Vor allen auf die kleinen und mittelständischen Unternehmer. Sie sind weder Spekulanten noch Exporteure, und ihre Unternehmen produzieren in der Regel für den heimischen Markt. Sie schaffen Arbeit, und zwar gewerkschaftlich organisierte Arbeit. Das ist ein starkes Bündnis. Dazu kommen die Organisationen der Studierenden. Und wir haben einen guten Dialog mit der Kirche, vor allem dort, wo es um soziale Ungleichheit geht, denn wir alle wollen soziale Gerechtigkeit.
Gewerkschafter Adolfo Aguirre ist Sekretär für internationale Beziehungen und Koordinator für Industriearbeiter beim Gewerkschaftsdachverband „Central de Trabajadores de la Argentina Autónoma“ (CTAA), in dem hauptsächlich informelle Arbeiter und Arbeitssuchende organisiert sind.
Interviewer: Jürgen Vogt ist Journalist und lebt in Buenos Aires.