Die Lage weltweit: Fortschritt für die Pflegearbeit
Pflegearbeit wird immer mehr in die private Sphäre ausgelagert: Heimarbeiterin auf den Philippinen.
10.09.2024 I Bisher stemmen vor allem Frauen die Sorgearbeit. Ihr Lohn ist meist mies, zumal immer mehr Investoren in die Branche einsteigen, der Markt gilt als profitträchtig. Doch es gibt andere Modelle, für die Gewerkschaften jetzt kämpfen.
Die Weltbevölkerung altert – besonders schnell im Norden, aber auch im Globalen Süden. Den Vereinten Nationen (UN) zufolge lag der Anteil der Menschen über 65 Jahren in den Industriestaaten 2023 bei 20 Prozent, in den am wenigsten entwickelten Staaten bei 3,9 Prozent und in den übrigen Entwicklungsländern bei 9,0 Prozent. Die UN gehen davon aus, dass die Zahl der Älteren auch in den am wenigsten entwickelten Ländern in den kommenden Jahrzehnten stark steigt. Damit wird der Bedarf an Sorgearbeit weltweit enorm wachsen.
Heute wird auf der ganzen Welt ein großer Teil der Sorgearbeit von Frauen geleistet, häufig unter- oder gar nicht bezahlt. Gleichzeitig ist der Pflegesektor in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr ins Blickfeld von Unternehmen und Investoren gerückt. Viele Staaten haben den Markt für private Anbieter geöffnet. Er gilt als profitträchtig und wachstumsstark. Der US-Investor Forrest Preston etwa hat mit seinem Unternehmen Life Care Centers of America ein Milliardenvermögen gemacht. Die Finanzierungsquellen im Pflegesektor sind aufgrund stetiger öffentlicher Zuschüsse oder Sozialversicherungsleistungen in weiten Teilen von der konjunkturellen Lage unabhängig.
Was ist Sorgearbeit?
Sorgearbeit, auch Care-Arbeit genannt, umfasst alle bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten des sich sorgens, beispielsweise die Pflege von älteren und kranken Menschen, die Betreuung von Kindern, sowie kochen und Reinigungsarbeiten.
Im Globalen Norden gibt es bereits gut ausgebaute, auch mit öffentlichen Geldern finanzierte Pflegesysteme, im Globalen Süden wird gerade erst damit begonnen, diese aufzubauen. Die Lage der im Care-Sektor Tätigen ist sehr unterschiedlich: Es gibt hochqualifiziertes medizinisches Personal, das gut abgesichert ist – aber auch unzählige Pflegende, die weder einen Arbeitsvertrag haben noch Zugang zu Sozialleistungen oder einen angemessenen Verdienst.
Von den Philippinen, aus Osteuropa und anderen Ländern gehen Menschen in reiche Staaten, um dort in der häuslichen Pflege tätig zu sein. Dort sind sogenannte graue Pflegemärkte mit einem transnationalen informellen Arbeitsmarkt entstanden. Im Globalen Süden arbeiten Gemeindegesundheitshelfer*innen in Gesundheitszentren oder als mobile Einsatzkräfte unter prekären Bedingungen.
„Leider sehen wir viele Gemeindegesundheitshelfer und häusliche Pflegekräfte, die immer noch informell arbeiten“, sagt Alan Sable, Leiter des Bereichs Pflege beim Gewerkschaftsverband UNI Global Union, der mehr als 20 Millionen Beschäftigte im Dienstleistungssektor in 150 Ländern vertritt. „Alle Pflegekräfte verdienen vollwertige formelle Arbeitsplätze mit vollem Zugang zu allen Sozialleistungen“, fordert er.
Ein Schritt dahin: Die Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hat im Juni 2024 eine Entschließung zur menschenwürdigen Arbeit in der Betreuungs- und Pflegewirtschaft verabschiedet. Die Konferenz ist das wichtigste Organ der UN-Sonderorganisation. Hier legen Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen und Staaten gemeinsam soziale und arbeitsrechtliche Mindestnormen fest, die von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. „Es herrscht dringender Handlungsbedarf, um menschenwürdige Arbeit in der Pflege- und Betreuungswirtschaft voranzubringen und menschenwürdige Arbeit durch den Zugang zu Pflege und Betreuung für alle zu fördern“, heißt es in der ILO-Entschließung.
Ein großer Fortschritt aus Sicht der Gewerkschaften: In der Entschließung fordert die ILO, informelle Arbeitsplätze und Unternehmen im Care-Sektor zu formalisieren. Das ist ein zentraler Punkt, um die Bedingungen für viele Beschäftigte zu verbessern. Denn informelle Arbeitsplätze sind der staatlichen Aufsicht entzogen, Beschäftigte haben weder eine rechtliche noch eine soziale Absicherung und sind ihrem Arbeitgeber ausgeliefert. Ihre Situation ändert sich durch eine vertragliche Absicherung grundlegend.
„In der Entschließung wird außerdem stark auf die Bedeutung der Ausbildung und Professionalisierung von Pflegekräften hingewiesen, was ebenfalls ein wichtiger Schritt nach vorne ist“, sagt Alan Sable. Deshalb wird sie dazu beitragen, die Lage zu verbessern, ist er überzeugt. Mit ihrer Hilfe können Pflegekräfte und ihre Gewerkschaften nun das moralische Gewicht der ILO nutzen, um den Druck auf die Regierungen zu erhöhen, damit diese sicherstellen, dass Pflegekräfte formalisierte Jobs und Schulungen erhalten.
Mit der Entschließung fordert die ILO auch eine angemessene Entlohnung, „im Einklang mit dem Grundsatz des gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit und mit einem wirksamen Arbeitnehmenden- und Sozialschutz“. Allerdings wird nicht definiert, was das konkret bedeutet, auch keine Untergrenze formuliert. Nicht durchgesetzt haben sich Forderungen der Gewerkschaften nach Mindeststandards für eine angemessene Personalausstattung in Einrichtungen. Ein großes Problem in vielen Staaten ist, dass nicht genug Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Die Corona-Pandemie hat die Situation noch verschärft.
„Es gibt keinen Mangel an Pflegekräften. Es mangelt an Pflegekräften, die bereit sind, unter den gegenwärtigen Bedingungen zu arbeiten“, sagt Alan Sable. Viele bleiben nur kurz an einem Arbeitsplatz, weil sie die Bedingungen nicht ertragen. Dazu gehört hoher Arbeitsdruck aufgrund der Personalknappheit. „Eine bessere Personalausstattung ist eine Möglichkeit, Mitarbeitende zu halten und die allgemeine Personalkrise zu lösen“, betont der Gewerkschafter.
Wie Sorgearbeit gut organisiert werden kann, zeigt ein Blick in die USA. Im Staat Washington zum Beispiel gilt: Braucht eine Familie Unterstützung bei der Pflege, hat sie je nach Grad der Bedürftigkeit Anspruch auf Unterstützung und kann wählen, wer sie leistet. Das kann auch ein Familienmitglied sein. „Dann wird diese Person von der Gewerkschaft geschult und so werden ihr alle notwendigen Fähigkeiten vermittelt, um die Pflege sicher zu leisten“, berichtet Alan Sable. Diese Person wird vom Bundesstaat Washington bezahlt und erhält einen formellen Arbeitsvertrag mit vollem Zugang zu allen Sozialleistungen wie Krankenversicherung oder Rente.
Die Gewerkschaften spielten eine Schlüsselrolle bei der Etablierung dieses Systems. Sie haben es gemeinsam mit der Regierung des Bundesstaates entwickelt und in Tarifverhandlungen die Interessen der Pflegekräfte durchgesetzt. Das Beispiel könnte Nachahmer finden: Bei einer von UNI Global Union organisierten Konferenz im November 2023 informierten sich Gewerkschaftsvertreter*innen aus lateinamerikanischen Staaten und aus Kanada über das Modell.
Autorin: Anja Krüger beobachtet als Journalistin in Berlin die Entwicklungen in der Gewerkschaftslandschaft.