Aktuelles und Rechtliches für Betriebsräte
BESCHLUSS DES LAG HESSEN:
In Dreiergremium fehlt einziger BR mit Erfahrung für fünf Monate – Ersatzmitglied braucht Grundlagenschulung!
Das LAG Hessen hat mit seinem Beschluss vom 17.01.2022 - 16 TaBV 99/21 kürzlich einen für Betriebsräte sehr interessanten Fall entschieden, in dem in einem Dreier-Betriebsratsgremium der Betriebsratsvorsitzende für fünf Monate ausfiel. Dieser war auch der Einzige gewesen, der Erfahrungen aus einer vorangegangenen Amtszeit mitbrachte. Der Betriebsrat entsandte ein Ersatzmitglied zu einer Grundlagenschulung – und konnte glaubhaft darstellen, dass dies in der konkreten Situation auch erforderlich war.
Vom Grundsatz her hatte das BAG die Problematik längst entschieden:
Die Grundlagenschulung eines Ersatzmitglieds kann erforderlich im Sinne von § 37 Abs. 6 BetrVG sein. Der Betriebsrat muss allerdings besondere Umstände geltend machen, und eine entsprechende Prognose aufstellen können, um die Erforderlichkeit zu begründen und den Arbeitgeber in die Pflicht nehmen zu können, so die Grundsatzentscheidung des BAG vom 19.09.2001 – 7 ABR 32/00.
Mit dem Beschluss des LAG Hessen erfolgte nun eine Konkretisierung der Thematik. Betriebsräte können die Entscheidung als Orientierung und als Argumentationshilfe nutzen, wenn sie ein Ersatzmitglied zu einer Grundlagenschulung schicken möchten und sich in einer ähnlichen Situation befinden.
Und das passierte im Einzelnen:
Am 27. April 2020 begann mit einer Operation die Arbeitsunfähigkeit des Betriebsratsvorsitzenden eines Dreiergremiums, die bis zum 31. August andauerte. Vom 01. September bis 05. Oktober schloss sich sein Jahresurlaub an. Trotz bestehender Arbeitsunfähigkeit nahm er jedoch an Betriebsratssitzungen am 20.Mai 2020 und am 17. Juni 2020 teil. Auch am 04. Mai hatte eine telefonische Betriebsratssitzung stattgefunden, an der der recht frisch operierte Betriebsratsvorsitzende zeitlich begrenzt teilnahm, jedoch eine verstärkte körperliche Anstrengung verspürte. Nach der Sitzung, am späten Nachmittag dieses Tages wurde das Ersatzmitglied von einem Betriebsratsmitglied in einem langen Telefonat über den Sachstand und seine absehbare Heranziehung zur Betriebsratsarbeit informiert. Dabei stellte sich heraus, dass das Ersatzmitglied über keinerlei betriebsverfassungsrechtliche Kenntnisse verfügte. Hieraus ließ sich erkennen, dass es den übrigen Betriebsratsmitgliedern – selbst Neulinge in der Betriebsratsarbeit und unter starkem Druck stehend – nicht möglich sein würde, dem Ersatzmitglied so kurzfristig die erforderlichen Kenntnisse zu vermitteln.
Ursprünglich hatte der BR-Vorsitzende gedacht, er hätte seine Betriebsratstätigkeit nach der Rekonvaleszenz wieder normal ausführen können. Es zeichnete sich jedoch schnell ab, dass es sich anders entwickeln würde. Der Arbeitsunfähige musste einige für den Betriebsrat vereinbarte Termine absagen, größtes Problem war, dass die Termine der Krankengymnastik und der 12-wöchentlichen ambulanten Reha permanent wegen Corona hin und her verlegt wurden. Dadurch ließ sich recht früh erkennen, dass eine Arbeitsfähigkeit des Gremiums bis zum Ende der Reha nicht sichergestellt werden konnte. Dazu kam, dass sich der Arbeitsunfähige durch seinen anschließenden Jahresurlaub weitere Rekonvaleszenz verschaffen wollte. Ebenso standen mehrere Urlaube der übrigen Betriebsratsmitglieder und des betreffenden Ersatzmitglieds an.
All diese Umstände veranlassten das Betriebsratsgremium dazu, dass auf der Sitzung am 17. Juni 2020 der arbeitsunfähige Betriebsratsvorsitzende seinen Vorsitz abgab und das Gremium die Entsendung des betreffenden Ersatzmitglieds zu einer Grundlagenschulung im Betriebsverfassungsrecht beschloss. Da kein früherer Termin zu bekommen war, entsandte man das Ersatzmitglied zur Schulung in der Zeit vom 31. August bis 4. September 2020. Für die ab 7. September 2020 stattfindenden Betriebsratssitzungen konnte das Ersatzmitglied sein Wissen auch erfolgreich einsetzen. Um den Betriebsrat bis Ende des Jahres dauerhaft arbeitsfähig zu halten, war es – so die Prognose – absehbar erforderlich gewesen, das betreffende Ersatzmitglied dauerhaft zu Betriebsratssitzungen hinzuzuziehen.
Auch betriebliche Gründe machten die Arbeitsfähigkeit des Gremiums unerlässlich. Es gab schon länger Auseinandersetzungen zum Thema Arbeitszeit. Der Arbeitgeber hatte einen Entwurf einer Betriebsvereinbarung zur elektronischen Zeiterfassung vorgelegt. Über beides verhandelte man am 17. Juni 2020. Aufgrund des hiermit verbundenen Zeitaufwands gelangte der Betriebsrat zu der Prognose, dass das betreffende Ersatzmitglied bis zur Rückkehr des krank gemeldeten scheidenden Vorsitzenden dauerhaft hinzuzuziehen wäre und - wegen der im Anschluss daran bestehenden Urlaubssituation- zumindest bis Ende des Jahres 2020, gewiss auch darüber hinaus, regelmäßig heranzuziehen wäre. So kam es auch. Das betreffende Ersatzmitglied nahm anstelle des arbeitsunfähigen BRs am 3., 4. und 10. August an telefonischen Besprechungen des Betriebsrats teil. Am 12. August 2020 fand eine Betriebsratssitzung statt, an der das Ersatzmitglied anstelle des ehem. Vorsitzenden teilnahm. Auch an der folgenden Betriebsratssitzung vom 7. September 2020 nahm das Ersatzmitglied teil. Am 9. September 2020 verhandelten die Betriebsparteien über eine Betriebsvereinbarung Arbeitszeit. Auch hieran nahm das Ersatzmitglied teil. An der Betriebsratssitzung vom 16. September 2020 war das Ersatzmitglied zwar verhindert. Es nahm aber an den Betriebsratssitzungen vom 27. Oktober und 22. Dezember 2020 teil.
Darüber hinaus war die Prognose von den Umständen beeinflusst, dass der Betriebsrat wegen unterschiedlicher Außendiensteinsätze der Fahrer keine zeitlich unbegrenzten Dispositionsmöglichkeiten hatte, um den Einsatz des betreffenden Ersatzmitglieds zu vermeiden. Es handelte sich zudem um einen Kleinbetrieb, in dem ein völlig unerfahrenes Ersatzmitglied ein langjährig erfahrenes Betriebsratsmitglied ersetzen musste.
Das LAG Hessen folgte der Argumentation des Betriebsrats und wies zahlreiche Gegenargumente des Arbeitgebers zurück. Dieser hatte z.B. anzuführen versucht, dass die Rechtsprechung davon ausgehe, dass eine Heranziehungsquote des Ersatzmitglieds zu Betriebsratssitzungen von mindestens 40 % erforderlich sei. Diese sei nicht erfüllt, da das arbeitsunfähige Betriebsratsmitglied – offenbar nicht amtsunfähig gewesen sei und an Betriebsratssitzungen durchaus teilgenommen habe. Das LAG Hessen verwies jedoch auf die Grundsatzentscheidung des BAG vom 19.09.2001, in der festgestellt wurde, dass auch eine Langzeiterkrankung eines ordentlichen Betriebsratsmitglieds zum langfristigen Einrücken eines Ersatzmitglieds führen könne. Die 40%-Quote der Sitzungsbeteiligung betreffe dagegen kurzfristig auftretende Vertretungsfälle.
Betriebsrat muss immer auch strategisch denken und handeln!
Die erfreuliche Entscheidung des LAG Hessen ist auch aus einem strategischen Grund bemerkens- und lesenswert. Das arbeitsunfähige Betriebsratsmitglied hatte eigentlich etwas Gutes gewollt, nämlich den Betriebsrat arbeitsfähig halten und ihn zu unterstützen, als es so kurzfristig nach seiner Operation trotz Arbeitsunfähigkeit Betriebsratsarbeit leistete und an der ein oder anderen Betriebsratssitzung teilnahm. Dem Arbeitgeber diente dies jedoch als Steilvorlage, das BR-Mitglied trotz Arbeitsunfähigkeit als nicht amtsunfähig zu bezeichnen und die Erforderlichkeit einer Schulung eines Ersatzmitglieds deswegen in Abrede zu stellen. Ein Betriebsrat, der in einer solchen Situation ist, muss also immer auch bedenken: Selbst wenn der Einsatz vordergründig der Arbeitsfähigkeit des Betriebsratsgremiums dient, könnte dieses Handeln eventuell auch gegen ihn und das Gremium verwendet werden und einer Gegenargumentation des Arbeitgebers Vorschub leisten.
Ebenso hat zu der erfreulichen Entscheidung sicherlich beigetragen, dass der Betriebsrat die Situation sehr genau darlegen und mit vielen Argumenten begründen konnte. In solch einer Situation ist für Betriebsräte immer Argumentationsgeschick und differenzierte Darlegung der meist komplexen Lage gefragt. Es lohnt sich daher immer, genau hinzuschauen und sich zu fragen: Wie genau hat sich ein Vorgang zugetragen? Welche Begleitumstände haben mitgespielt und welche Argumente lassen sich daraus ziehen?
Die lesenswerte Entscheidung im Volltext gibt es hier:
LAG Hessen, Beschluss vom 17.01.2022 - 16 TaBV 99/21