Der Preis von Fast Fashion
13.06.2023 I Die Recherche kann Monate dauern, aber immer wieder decken Gewerkschaften in Brasilien Skandale auf: In einer Branche, in der alles in kürzester Zeit produziert, konsumiert und entsorgt wird, ist Sklavenarbeit üblich. Doch es könnte sich etwas ändern.
Ende April rückte die Polizei in Americana, einer Kleinstadt im Bundesstaat São Paulo, aus. In einem schmutzigen, stickigen Nähstudio fand sie vier bolivianische Arbeiter_innen vor, die dort unter sklavenartigen Bedingungen gearbeitet haben sollen. Die Löhne sollen extrem niedrig gewesen und seit Februar soll überhaupt kein Lohn mehr ausgezahlt worden sein. Laut den Ermittler_innen mussten die geretteten Frauen und Männer arbeiten, „bis der Körper nicht mehr mitmachte“.
Dieser Fall ist nur einer unter vielen Skandalen, mit denen die brasilianische Textilindustrie regelmäßig in die Schlagzeilen gerät. Brasilien ist der viertgrößte Kleidungs- und der fünftgrößte Textilproduzent der Welt. Laut der Brasilianischen Assoziation der Textilindustrie (Abit) arbeiten acht Millionen Menschen direkt oder indirekt in der Branche. 75 Prozent davon sind Frauen. Der Großteil, rund 6,5 Millionen Menschen, arbeitet informell, das heißt ohne Arbeitsrechte. Die Branche umfasst brasilienweit mehr als 25.000 Firmen.
Zwar gibt es auch einige größere Unternehmen, doch die meiste Arbeit wird in mittleren und kleinen Unternehmen verrichtet, seit der Pandemie auch vermehrt in Heimarbeit. Die oft große Nähe zum Arbeitgebenden, die häufige Rotation in den Betrieben und das Union-Busting, also die systematische Bekämpfung von Arbeitnehmendenvertretungen, mache die gewerkschaftliche Organisation in der Branche schwierig, sagt Eunice Cabral den Nord-Süd-News. Die 70-Jährige ist seit 1978 gewerkschaftlich aktiv und derzeit Präsidentin der Gewerkschaft der Näherinnen von São Paulo und Osasco im Westen von São Paulo.
"Wo es keine Tarifverträge gibt, können die Arbeitgeber machen, was sie wollen." (Gewerkschafterin Cabral)
Immer wieder werden Arbeiter_innen aus sklavenartigen Bedingungen befreit. Die NRO Repórter Brasil, die auch ein investigatives Online-Medium betreibt und Partnerin des DGB Bildungswerks ist, deckt seit mehr als zwei Jahrzehnten Fälle von Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen auf. Auch große international agierende Firmen wie Zara, die Teile von Kleidungsstücken in Brasilien produzieren lassen, standen bereits im Fokus von Ermittlungen wegen Sklavenarbeit.
Ausländische Arbeiter_innen, überwiegend aus Bolivien, sind besonders betroffen. Oft werden sie mit falschen Versprechungen ins Land gelockt, nur die wenigsten kennen ihre Rechte. Vor Ort werden ihnen die Pässe abgenommen und nicht selten müssen sie unter menschenunwürdigen Verhältnissen schuften. „Das Geschäftsmodell einiger Unternehmen beruht auf der extremen Ausbeutung von Arbeiter_innen“, sagt die Gewerkschafterin Cabral. „Die Arbeiter_innen aus Bolivien haben große Angst vor den Behörden. Und weil sie fürchten, in ihr Land zurückgeschickt zu werden, sehen sie oft von Anzeigen ab.“
Fast Fashion, die schnelllebige Mode, in Deutschland und anderen Ländern, treibt die Sklavenarbeit in der Bekleidungsindustrie an. Mit dem ständigen Wechsel von Farben, Schnitten, ganzer Kollektionen wird die Produktion erhöht – um mit den Trends Schritt zu halten, neue Trends zu schaffen. Die Preise sollen zugleich niedrig sein, damit es massenhaften Konsum geben kann. Es ist ein System, in dem alles in kürzester Zeit produziert, gebraucht und entsorgt wird.
Zusammen mit den Behörden ist es der Gewerkschaft der Näherinnen von São Paulo und Osasco gelungen, viele Fälle von Sklavenarbeit aufzudecken. Jede einzelne Recherche kann jedoch lange dauern. Betriebe müssen oft wochenlang überwacht werden. Cabral meint: „Wir sind nicht nur Gewerkschafter, sondern auch Detektive.“ Ein Problem ist die hohe Flexibilität der Unternehmen. Droht ein Betrieb aufzufliegen, schließt er einfach die Pforten und macht woanders neu auf – oft im Landesinnern, weit weg von den gut funktionierenden Strafverfolgungsbehörden der großen Industriezentren.
Für Cabral hat eine weitere Sache die Lage für die Branche komplizierter gemacht: die Amtszeit des ultrarechten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro. „Er setzte alles daran, um den Arbeitenden zu schaden.“ So verabschiedete der ehemalige Militär eine Reihe von umstrittenen Arbeitsgesetzen mit dem Ziel, dass Arbeitgebende und Arbeitnehmende direkt verhandeln können, ohne eine Gewerkschaft, ohne Tarifverträge. „Wo es keine Tarifverträge gibt, können die Arbeitgeber machen, was sie wollen“, meint Cabral.
Seit dem 1. Januar 2023 ist der Sozialdemokrat und ehemalige Gewerkschaftsführer Luiz Inácio „Lula“ da Silva wieder Präsident. Noch sei es „zu früh“, um die Arbeit der Regierung genau zu beurteilen, meint Cabral, aber erste Ansätze seien positiv. Die Erhöhung des Mindestlohns baue Druck auf Arbeitgeber auf. Außerdem kämen nun im Nationalen Rat der Arbeit verschiedene Gruppen zusammen: die Regierung, Gewerkschaften und Unternehmen. Gewerkschafterin Cabral: „Ich blicke positiv in die Zukunft.“
Der Autor: Niklas Franzen lebt in Berlin und São Paulo und berichtet seit vielen Jahren aus und über Brasilien.
aus NORD I SÜD news I/2023
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