Neue Unternehmensstrategien für die Ära beschleunigter Transformation: Industriepolitik und Mitbestimmung müssen den Rahmen bilden
Unternehmen und Beschäftigte sind ganz unterschiedlich gut auf die Herausforderungen von Digitalisierung und stärkeren Nachhaltigkeitsanforderungen eingestellt, haben Kajsa Borgnäs und Carola Dittmann beobachtet. Sie sehen in der chemischen Industrie einige gute Beispiele, gemeinsam in die Offensive zu kommen.
Ein Artikel aus der Broschüre Transformation weltweit (2020).
Die Digitalisierung verändert Unternehmen und Arbeitswelt oft schleichend: Da können Maschinen nun proaktiv gewartet oder Produktion und Logistik übersichtlich vernetzt werden. Immer mehr Kundendaten sammeln sich an. Künstliche Intelligenz hält Einzug. Das bedeutet meist höhere Geschwindigkeit oder höhere Komplexität. Die Beschäftigten müssen sich anpassen. Bei der Dekarbonisierung sind die Entwicklungen derzeit etwas sprunghafter, was auch auf die politischen Anforderungen zurückzuführen ist. Vor allem Betriebe der energie- und handelsintensiven Industrien müssen in den kommenden Jahrzehnten mit tiefgreifenden Veränderungsprozessen rechnen – und ihre interne Organisation und Prozesse neu aufstellen.
Transformationen werden politisch flankiert
Die vielen, gleichzeitig stattfindenden Transformationen betreffen nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem auch die Beschäftigten. Ihre Arbeitsprozesse, Arbeitsorganisation sowie die Zukunftsperspektiven verändern sich rasant.
Business as usual war also gestern. Die vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit – neben der Digitalisierung und den ökologischen Krisen gehören auch der demografische Wandel und globale Wertschöpfungsnetzwerke – greifen tief in Wirtschaft und Gesellschaft ein.
Ganz neu sind diese Herausforderungen nicht. Sie sind jedoch in den letzten Jahren stärker mit politischen Zielen verknüpft worden. 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen die sogenannten Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDG). Damit liegt nun erstmals ein universell gültiger Katalog mit Vorgaben vor, wie die weltweite Entwicklung bis 2030 sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltig zu gestalten ist. Ausdrücklich werden darin auch Erwartungen formuliert, wie eine nachhaltige Wirtschaftsweise der Unternehmen aussehen kann. Im selben Jahr wurden die Pariser Klimaziele für das Jahr 2050 verabschiedet und anschließend konkretisiert, etwa im deutschen Klimaschutzgesetz oder im europäischen Green Deal. Damit steigt der politische Transformationsdruck. Aber auch die Gesellschaft erwartet immer mehr verantwortungsvoll produzierte und fair gehandelte Produkte und fragt sie auch nach.
Das alles passiert in einem geopolitischen Umfeld voller Spannungen, mit denen die Unternehmen umgehen müssen: Der industrielle Wettbewerb und die Systemkonkurrenz zwischen China und der EU bzw. den USA hat sich verschärft. Zusätzlich offenbart die Corona-Pandemie, wie anfällig die globalisierten Lieferketten sind: Versorgungsengpässe und wirtschaftlicher Stillstand, begleitet von sozialer Unsicherheit und (teilweisen) Arbeitsplatzverlusten prägten das Frühjahr 2020.
Für die deutsche und die europäische Industrie bedeutet das, dass sie Technologien, Produktionsweisen und Geschäftsmodelle vielfach neu denken und aufstellen muss. Die zunehmende unternehmerische Sorgfaltspflicht endet dabei nicht an den eigenen Werkstoren – auch die Umwelt-, Sozial- und Arbeitsstandards in den globalen Liefer- und Wertschöpfungsnetzwerken müssen verstärkt überwacht und sichergestellt werden.
Digitalisierung verändert Arbeitsprozesse schleichend
Die Digitalisierung treibt Veränderungen an, die Betriebe, die Gesellschaft als Ganzes und jeden Einzelnen betreffen werden. Bislang erfolgen diese Veränderungen (überwiegend) schrittweise, die Berufe und Tätigkeiten ändern sich schleichend, anstatt (wie es befürchtet worden war) plötzlich und in kürzester Zeit wegrationalisiert zu werden.
Die bereits hochautomatisierten Prozessindustrien scheinen im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen (wie etwa Teilen des Dienstleistungssektors) robuster aufgestellt zu sein, wenngleich der digitale Transformationsdruck auch diese Branchen betrifft. Neue digitale Technologien wie Big Data, Predictive Maintenance, künstliche Intelligenz oder 3D-Druck werden zwar bereits eingesetzt, bislang aber eher experimentell oder im Forschungs- und Laborbereich. Neben interner Prozessoptimierung zielen die Digitalisierungsstrategien der Unternehmen häufig darauf, neue datenbasierte Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu etablieren, zum Beispiel für Forschung und Entwicklung, Marketing oder Vertrieb. Eine wichtige Rolle spielen hierfür Zugang und Nutzungsmöglichkeiten von (Verbraucher-) Daten.
Zentrale Punkte, bei denen die Arbeitnehmenden mitgestalten wollen, sind Datensicherheit und Datenschutz sowie die Frage, wie verhindert werden kann, dass die Anforderungen schleichend immer weiter zunehmen.
Mit den technischen Veränderungen im Unternehmen wandeln sich die Tätigkeiten, Anforderungs- und Qualifikationsprofile der Beschäftigten. Ein großer Teil der Industriebeschäftigten gibt in Umfragen an, dass die Anforderungen im Zuge der Digitalisierung zunehmen. Allerdings sind sie je nach Wirtschaftsbereich ganz unterschiedlich schnell und intensiv betroffen.
Das zeigt beispielsweise der „Monitor Digitalisierung“ (2019), für den mehr als 14.000 Beschäftigte in 600 Betrieben in der Chemie und anderen Industriebranchen befragt wurden. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Belegschaften sind überwiegend offen für digitale Veränderungsprozesse und akzeptieren sie. Sie sehen, dass eine transparente, betriebliche Digitalisierungsstrategie nötig ist, jedoch fühlen sie sich bei der Gestaltung und Umsetzung der Strategie (falls vorhanden) zu wenig eingebunden.
Zentrale Punkte, bei denen die Arbeitnehmenden mitgestalten wollen, sind Datensicherheit und Datenschutz sowie die Frage, wie verhindert werden kann, dass die Anforderungen schleichend immer weiter zunehmen. Die Foren und Handlungsmöglichkeiten der Mitbestimmungsakteure müssen an die wachsenden Kompetenzfelder angepasst werden.
Evonik: Beispiel für gute Mitbestimmung
Idealerweise werden alle betroffenen Akteure im Unternehmen (die Belegschaften, Arbeitnehmervertretungen und Sozialpartner) einbezogen, wenn die Digitalisierungsstrategie erarbeitet wird. Ein gutes Beispiel dafür ist der Chemiekonzern Evonik Industries: Gemeinsam mit dem Betriebsrat verständigte sich das Unternehmen auf ein „Digitales Leitbild“. Es bietet konkrete Grundsätze zu Qualifizierung, Datenschutz, Gesundheit und zur frühen Einbeziehung der Beschäftigten in die Veränderungsprozesse, und bildet die Grundlage für eine weitere Ausdifferenzierung der digitalen Transformation im Unternehmen.
Dekarbonisierung und Nachhaltigkeit in der Industrie
Dass die Produktion – national, europäisch und global – nachhaltiger gestaltet werden muss, ist der zweite große Treiber für Veränderung. In 30 Jahren wollen Deutschland und die EU treibhausgasneutral sein. Das stellt insbesondere die energieintensiven Industrien – ob Chemie, Aluminium, Glas, Kunststoff, Kautschuk oder Stahl – vor enorme Herausforderungen.
Einerseits produzieren sie wichtige Grund- und Werkstoffe. Damit sind sie eine der tragenden Säulen unserer Volkswirtschaft und ermöglichen häufig, dass in den nachgelagerten Wertschöpfungsstufen ressourcenschonender produziert werden kann. Zugleich sind diese Industrien selbst sehr energie-, ressourcen- und emissionsintensiv und gelten oftmals als technisch schwierig zu dekarbonisieren.
Außerdem haben die Grundstoffindustrien ihre (Energie-)Effizienzpotenziale in den vergangenen Jahrzehnten weitestgehend ausgeschöpft. Um weiter zu kommen, müssen Produktionsanlagen und -prozesse tiefgreifend verändert werden, etwa, indem man sie weitgehend auf Basis erneuerbarer Energien (EE) elektrifiziert. Aktuell hinkt jedoch die Infrastruktur für EE und auch die Wasserstoffinfrastruktur dem Bedarf der Industrie massiv hinterher. Um sie konsequent auszubauen, bedarf es immenser Investitionen und Innovationen.
Zugleich suchen die energieintensiven Unternehmen nach neuen Rohstoffen und bauen neue Wertschöpfungsketten auf. Hier sind branchenübergreifende Verflechtungen wie etwa bei der Entwicklung von Stromspeicher-Technologien (Power to x) vielversprechend. Beispielsweise ist es auch möglich, Lignin, ein Restprodukt aus der Papierherstellung, als Rohstoff für die Chemie- oder Kunststoffbranche einzusetzen. Bei der Stahlproduktion anfallende Hüttengase können für die Herstellung von Grundchemikalien oder Düngemitteln genutzt werden.
All diese Prozesse bedeuten häufig, dass sich die Beschäftigten auf veränderte Tätigkeiten einstellen müssen oder neue Qualifikationen benötigen. Zudem könnten bei dem Auslaufen zentraler Technologien – wie etwa der fossilbasierte Verbrennungsmotor oder die Kohleverstromung – möglicherweise ganze Branchen verschwinden. Das würde massive Arbeitsplatzverluste mit sich ziehen und macht es dringend erforderlich, dass der Staat die Unternehmen industrie- und beschäftigungspolitisch begleitet. Die Dekarbonisierung und die Nachhaltigkeitsarbeit der Unternehmen sind also zunehmend Aufgaben, die die privaten und staatlichen Akteure gemeinsam koordinieren müssen – und beide Seiten müssen die damit verbundenen Kosten und Risiken tragen.
Das Ziel ist klar, wie sieht der Weg aus?
Die Transformation unserer Industriegesellschaft im Sinne der SDGs ist eine Herausforderung, die gesamtgesellschaftlich und sozial austariert angegangen werden muss. Gelingt das nicht, wird es dafür keine breite Akzeptanz geben. Folgende Ansätze und Strategien sind denkbar und teilweise schon zu beobachten:
Rund um die verschiedenen Transformationsziele sind neue Foren für einen breiten gesellschaftlichen Dialog erforderlich.
Rund um die verschiedenen Transformationsziele sind neue Foren für einen breiten gesellschaftlichen Dialog erforderlich. Unternehmen, Verbände, Beschäftigte und ihre betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretungen müssen in einen offenen Austausch mit der Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft treten, Interessen abwägen, Zielkonflikte benennen und gemeinsam überzeugende Ansätze entwickeln, um eine Zukunft mit einer starken Industrie und guten Beschäftigungsperspektiven zu gestalten.
Viele Verbände und Unternehmen haben bereits angefangen, aus den makropolitischen Zielsetzungen spezifische Branchen-Roadmaps zu erstellen. Hier werden Handlungsnotwendigkeiten und -optionen in den unterschiedlichen Technologiebereichen ausgelotet und notwendige Forderungen an die Politik definiert. Beispielsweise zeichnet die „Roadmap Chemie 2050“ mit verschiedenen Transformationspfaden auf, welche Möglichkeiten der Reduzierung von Treibhausgasen bestehen sowie welche Investitionsbedarfe und Rahmenbedingungen für die Chemiebranche nötig sind.
Es muss verstärkt darüber gesprochen werden, welche Rahmenbedingungen, welche staatliche Unterstützung dabei helfen, die Ziele zu erreichen. Es ist also eine aktivere Industriepolitik nötig. Beispielsweise hat sich jüngst die Diskussion um Fördersysteme für Innovation und Investition in neue Technologien intensiviert, sowohl auf deutscher als auch europäischer Ebene, nicht zuletzt mit dem Green Deal und den Industrie- und Wasserstoffstrategien. Diese Förderstrategien müssen enger verzahnt und besser abgestimmt werden, um Verzettelung oder gar negative Wechselwirkungen zu vermeiden.
Sozialpartnerschaft und eine starke Mitbestimmung sorgen dafür, dass Unternehmen robuster und krisenfester werden.
Sozialpartnerschaft und eine starke Mitbestimmung sorgen dafür, dass Unternehmen robuster und krisenfester werden. Das hat die Finanzkrise 2008 gezeigt und es deutet sich auch in der aktuellen Coronakrise an. Damit der anstehende Wandel eine Chance für Unternehmen und Beschäftigte werden kann, ist es dringend erforderlich, die Instrumente der Mitbestimmung zu erweitern. Dies betrifft etwa mehr Mitbestimmungsrechte in Fragen der betrieblichen Weiterbildung, der Personalplanung und der unternehmerischen Zukunftsstrategien.
Berufsbilder und Qualifikationsprofile werden sich wandeln, neue Berufe werden entstehen, andere wegfallen. Diese veränderten Anforderungen müssen in den Aus- und Weiterbildungssystemen abgebildet werden. Wie dieser Prozess tarifpolitisch und vorausschauend von den Sozialpartnern flankiert werden kann, zeigt das Beispiel der "Qualifizierungsoffensive Chemie", die IG BCE und BAVC mit dem Tarifvertrag 2019 auf den Weg gebracht haben. Neben dem „Future Skill Report“, einer KI-gestützten Analyse zukünftig benötigter Kompetenzen, können Unternehmen mit einem Qualifikationsanalyse-Werkzeug ihre Qualifizierungsbedarfe ermitteln. Zur Umsetzung der Weiterbildungsanforderungen wurde eine Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit geschlossen. Die Chemie-Industrie entwickelte damit als erste Branche mit einem übergreifenden sozialpartnerschaftlichen Abkommen Entwicklungsperspektiven, Fördermöglichkeiten und geeignete Qualifikationsmaßnahmen für die Beschäftigten.
Fazit: Ein „weiter so“ kann und wird es nicht geben. Weder politisch noch technisch oder für die Unternehmen und Beschäftigten. Es muss aber weiterhin gewährleistet werden, dass die Beschäftigten abgesichert sind und ihre „Transformationsfähigkeit“ kontinuierlich erhalten und gestärkt wird. Die industrielle Transformation bedeutet den Komplettumbau vieler Teile unserer Wirtschaft. Der permanente Veränderungsprozess, der Jahrzehnte andauern und fast alle Aspekte des Lebens und der Gesellschaft betreffen wird, kann nur gelingen, wenn er mit Blick auf Legitimität, Demokratie und gerechte Kosten- und Chancenverteilung vorangetrieben wird.
Die Autorinnen:
Kajsa Borgnäs ist Geschäftsführerin der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE
Carola Dittmann leitet den Bereich CSR und Mitbestimmung bei der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE
Der Artikel erschien in der Broschüre, Transformation weltweit – für Gute Arbeit im digitalen und ökologischen Wandel, im Dezember 2020.