Recycling als Chance
13.06.2023 I Indien ist einer der größten Textilproduzenten weltweit. Aber hier fallen jedes Jahr auch Millionen Tonnen Textilabfälle an. Statt sie teuer und unökologisch zu vernichten, sollen sie im Sinne einer Kreislaufwirtschaft verwertet werden.
20.000 Liter Wasser werden für die Herstellung einer Jeans und eines T-Shirts benötigt, genauso groß ist der durchschnittliche Wasserbedarf einer Person über zweieinhalb Jahre. Diese kleine Rechnung gibt einen Hinweis darauf, was die indische Textil- und Bekleidungsindustrie für die Umwelt bedeutet. Das Land gehört zu den größten Textilproduzenten der Welt, die Unternehmen decken die ganze Wertschöpfungskette von den Rohstoffen Baumwolle, Jute und Seide bis zu fertiger Bekleidung ab.
Nach der Landwirtschaft schafft die Branche die zweitmeisten Arbeitsplätze im Land. Die Produkte werden sowohl im Land als auch ins Ausland verkauft. Beim Export auf den Weltmarkt konkurriert Indien direkt mit seinen Nachbarländern Pakistan und Bangladesch. 2022 machte die textile Ausfuhr 44 Milliarden US-Dollar oder etwa 12 Prozent der Gesamtexporte aus.
Die Umweltbelastung ist aber zuletzt offensichtlicher geworden. Laut der Brancheninitiative „Fashion for Good“ fallen in Indien jährlich bis zu 7,8 Millionen Tonnen Textilabfälle an. Den größten Anteil macht Altkleidung von indischen Verbraucher_innen aus, gefolgt von Abfällen, die schon in der Produktion entstehen – und etwa sieben Prozent Importen. Ein Großteil davon landet auf Mülldeponien und wird dort allerbestenfalls thermisch verwertet, also verbrannt. Oft genug verrotten die Bekleidungsreste einfach oder zerfallen – je nach Material – in immer kleinere Plastikteile.
Allerdings verändert sich das Bewusstsein auch in der indischen Gesellschaft. Kleidung aus Second-Hand-Läden hat an Akzeptanz gewonnen. Straßenhändler_innen verkaufen Überschussware aus Fabriken, die es nicht in den Export geschafft hat - und nachhaltige indische Modemarken wie das in der Hauptstadt Delhi ansässige Sozialunternehmen Doodlage kaufen Fabrikreste für limitierte Kollektionen ein, die sie abfallfrei produzieren.
„Als Doodlage 2012 gegründet wurde, gab es keine Diskussion über Nachhaltigkeit und verantwortungsvolle Mode. Wir waren quasi eine der ersten, wenigen Marken, die diese Diskussion angestoßen haben“, sagt Gründerin Kriti Tula in einem Interview mit der Plattform „The Better India“.
Auch Umweltexpert_innen empfehlen einen solchen Ansatz: Um langfristig ökologisch nachhaltig zu wirtschaften, müssten mehr Textilien in die Kreislaufwirtschaft zurückgeführt werden. „Obwohl Indien weltweit führend im mechanischen Recycling ist, hat das Land noch keinen Kreislaufansatz für Textilabfälle entwickelt”, lautet das Fazit der Innovationsplattform Fashion for Good (FFG) in ihrer Marktanalyse von 2022, die zusammen mit über 700 Akteuren des indischen Textilabfall-Ökosystems erstellt wurde. Unterstützt wurde sie von zahlreichen Unternehmen, darunter Adidas, Levi Strauss & Co, Primark und die indischen Firmen Birla Cellulose und Welspun.
Der FFG-Bericht zeigt das Potenzial Indiens, aber auch seine Schwachstellen. „Bisher ist die Wertschöpfungskette weitgehend unorganisiert und intransparent“, heißt es dort. Das führe „zu einer mehrstufigen Abfallentsorgung“, sprich: Es fehlt an Infrastruktur für die Sammlung, Verteilung und Verarbeitung der verschiedenen Textilabfälle. Deshalb funktioniert bislang nicht einmal die inoffizielle Sammlung von Stoffresten auf der Straße, wie sie sich bei Plastikflaschen längst zu einem eigenen Geschäftszweig entwickelt hat.
Überhaupt ist die Textilindustrie kaum staatlich reguliert. Sie sieht sich unter dem Druck, wirtschaftlich konkurrenzfähig zu bleiben – etwa im Vergleich zu Bangladesch – und wehrt sich entsprechend. Gewerkschaften spielen hier keine sehr große Rolle, zuletzt waren nur rund 5 Prozent der Beschäftigten in der Bekleidungsindustrie gewerkschaftlich organisiert. Initiativen wie Fair Wear versuchen seit ein paar Jahren immer wieder, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammenzubringen und einen Sozialen Dialog zu starten. Bislang steckt der Prozess aber noch in den Anfängen.
So sind es bislang eher Initiativen wie die vor allem von der niederländischen DOEN Stiftung mit angestoßene Circular Apparel Innovation Factory (CAIF) mit Sitz in Mumbai, die den Wandel unterstützen. Die CAIF will Stakeholder in der indischen Bekleidungsindustrie zusammenführen und einen „stärker zirkulären Ansatz über den gesamten Lebenszyklus hinweg“ etablieren – das heißt, dafür sorgen, dass mehr nachhaltige Rohstoffe eingesetzt werden, Kleidung maximal genutzt und mehr recycelt wird, sowie dass die negativen sozialen Auswirkungen minimiert werden und die soziale Verantwortung gestärkt wird.
In diesem Jahr hat das indische Textilministerium eine Arbeitsgruppe für Umweltfragen ins Leben gerufen und im März eine Plattform für von Frauen geführte Start-ups und Produkte, die vor allem auf Textilabfällen basieren, initiiert. Aber es sind noch mehr Initiativen nötig. Bislang sind die Recyclingstandorte in Indien vor allem im Norden angesiedelt, sekundäre Rohstoffe für Upcycling gäbe es im ganzen Land.
Die Autorin: Natalie Mayroth lebt in Mumbai und berichtet als Journalistin über Südostasien.
Aus NORD I SÜD news I/2023
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