Training für Gewerkschafterinnen: »Die Stichworte Menstruation oder sexuelle Belästigung fehlen in Gewerkschaftssitzungen«
18.12.2023 I Frauen müssten an die „Entscheidungstische“ von Gewerkschaften, sagt die Inderin Anjali Bedekar. Sie baut weibliche Führungskräfte auf. Welche Erfahrungen macht sie?
Nord | Süd news: Frau Bedekar, wie wichtig ist die Vertretung von Frauen in Gewerkschaften?
Anjali Bedekar: Frauen in Indien, in der Region, arbeiten zunehmend im Dienstleistungssektor, zum Beispiel bei Versicherungen, in der IT-Branche, im Bank- und Finanzwesen und vor allem im Gesundheitswesen. In vielen Entscheidungsstrukturen am Arbeitsplatz und in den Gewerkschaften sind sie jedoch immer noch unterrepräsentiert. Eine wachsende Zahl von Frauen reicht nicht aus, wenn sie nicht an den Entscheidungstischen sitzen, um die Rechte der Frauen voranzubringen. Frauen bringen sich aktiv ein, zahlen Mitgliedsbeiträge, beteiligen sich an Kampagnen, Protesten und Streiks. Um das Überleben der Gewerkschaften langfristig zu sichern, müssen vor allem die Interessen der Jüngeren und der Frauen vertreten werden.
Was hindert Frauen daran, sich gewerkschaftlich zu engagieren?
Frauen sind oft einer Mehrfachbelastung ausgesetzt, wenn sie außer Haus Geld verdienen: Sie müssen gleichzeitig den größten Teil der familiären Verantwortung übernehmen, insbesondere bei der Betreuung von älteren Menschen oder Kindern. Diese Verantwortung schränkt die Zeit ein, die sie der Gewerkschaftsarbeit widmen können. Zweitens werden Gewerkschaftsversammlungen oft zu Zeiten und an Orten einberufen, die für Frauen unangenehm oder ungeeignet sind. Darüber hinaus herrscht innerhalb der Gewerkschaften die Meinung vor, dass Frauen für Führungsaufgaben nicht besonders geeignet sind, was ihren Aufstieg in höhere Positionen zusätzlich behindert.
Was tun Gewerkschaften wie UNI, um das zu ändern?
Wir sind der Ansicht, dass Gewerkschaften sich stärker um ihre weiblichen Mitglieder bemühen sollten. 2010 hat UNI auf dem Kongress in Japan eine Richtlinie verabschiedet, die eine 40-prozentige Vertretung der Geschlechter in allen internen Entscheidungsstrukturen vorsieht. Desweiteren arbeiten wir mit Gewerkschaftsmitgliedern zusammen, um weibliche Führungskräfte in den Strukturen durch Coaching aufzubauen.
Woran merkt man, dass bisher Frauen gefehlt haben?
Wenn man sich die Protokolle der Gewerkschaften in Südasien durchsieht, fehlen die Stichworte Menstruation oder sexuelle Belästigung. Mögliche Übergriffe auf dem Weg zur und in der Arbeit stellen ein Sicherheitsrisiko dar. Auch der Mangel an sauberen Toiletten für Frauen, selbst im öffentlichen Sektor oder in Versicherungsunternehmen ist eine Herausforderung. Ich spreche hier von gut ausgebildeten Frauen mit sicheren Arbeitsplätzen und Sozialleistungen. Viele Gewerkschaften vernachlässigen diese Grundbedürfnisse. Unsere Organisation betont die Wichtigkeit von sanitären Einrichtungen.
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich gemacht?
Als ich anfing zu arbeiten, wusste ich nicht genau, was eine Gewerkschaft ist. Ich bin damals beigetreten, da mein Arbeitsplatz gewerkschaftlich gut organisiert war. Nachdem ich bereits zehn Jahre in der Bank gearbeitet hatte, sahen sich Kollegen von mir mit Ungleichheiten und anderen Problemen konfrontiert, die sie sehr beunruhigten. Ich habe mich für sie eingesetzt und meine Führungsrolle gefunden.
Was hat Sie angetrieben, tiefer in die Gewerkschaftsarbeit einzusteigen?
Ich hatte das Privileg, Menschen aus verschiedenen Gewerkschaften im Ausland zu treffen, insbesondere aus verschiedenen Teilen Asiens. Einige von ihnen hatten Kurse an der Global Labour University in Berlin besucht. Ich entschied mich für eine Weiterbildung am Tata-Institute of Social Sciences im Rahmen der Global Labour University in Mumbai. Das Programm öffnete mir die Augen für die Arbeitswelt außerhalb meiner Gewerkschaft.
Welche positiven Beobachtungen haben Sie gemacht?
Frauen von Sri Lanka bis Indonesien gewinnen an Selbstvertrauen. Das Netzwerk spielt eine entscheidende Rolle und zeigt ihnen, dass sie gegen Ungleichheit und Diskriminierung kämpfen können. Nach unseren Workshops berichten uns Frauen, dass sie sich jetzt sicher fühlen, Männern und größeren Gruppen gegenüberzutreten. Eine Teilnehmerin erzählte, dass sie nun gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn isst, anstatt sie wie früher zu bedienen und dann erst zu essen. Gesellschaftlich tief verwurzelte Gewohnheiten zu durchbrechen, ist oft schwierig und erfordert die Stärkung der Frauen und die Überwindung gesellschaftlicher Stigmata. Wir wollen ein Umfeld schaffen, in dem die Stimmen der Frauen nicht nur gehört, sondern auch in den Verhandlungsprozess integriert werden. Unser Programm verändert die Einstellung von Frauen und Männern zur Gleichstellung der Geschlechter.
Anjali Bedekar
Vor vier Jahrzehnten, als die Präsenz von Frauen in Gewerkschaften in männerdominierten Bereichen in Indien, einschließlich des Bankwesens, noch ungewöhnlich war, brach Anjali Bedekar mit dieser Tradition. Mit 19 Jahren begann sie bei der Indischen Staatsbank zu arbeiten und engagierte sich in der Folge in der Gewerkschaft, um ihre Interessen und die anderer Frauen an ihrem Arbeitsplatz zu schützen und zu fördern. Heute ist die Mumbaierin Koordinatorin des indischen Verbindungsbüros des globalen Gewerkschaftsverbands Uni Global Union und leitete deren Initiative zur Gleichstellung von Frauen in der asiatisch-pazifischen Region. Im vergangenen Jahr ist dort in Kooperation mit dem DGB Bildungswerk BUND und finanziert durch das BMZ ein neues Projekt in die Wege geleitet worden, das Frauen in Dienstleistungsgewerkschaften stärkt. Knapp 100 Gewerkschafterinnen aus Bangladesch, Indien, Pakistan, Sri Lanka sowie Indonesien, Malaysia, Philippinen, Thailand und Vietnam nehmen an dem Programm teil. Die Hälfte von ihnen sind Mentees unter 35 Jahre, die derzeit von erfahrenen Gewerkschafterinnen zu Führungsfrauen gecoacht werden. Dieses Projekt betreut Anjali Bedekar.
Interviewerin: Natalie Mayroth lebt in Mumbai und berichtet als Journalistin aus Südasien.
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