
Ambivalenzen nicht ausblenden

Kommentar von Anne Lisa Carstensen (Foto rechts) und Lisa Riedner (Foto links) (Universität Kassel)
Seit Jahrzehnten engagieren sich Migrantinnen und Migranten in Gewerkschaften in Deutschland. So entspricht der Anteil der Mitglieder mit Migrationsgeschichte in der IG Metall mit 22 Prozent ungefähr dem Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Gesamtbevölkerung. Das Verhältnis der Gewerkschaften zu Migration ist aber ein kompliziertes. Während sich gewerkschaftliche Strukturen in den vergangenen Jahrzehnten langsam der migrationsgesellschaftlichen Realität öffneten, unterstützten Gewerkschaften immer wieder antimigrantische Politiken der Bundesregierung. Das Thema Migration war im gewerkschaftlichen Kontext auch deswegen so heikel, weil es die Frage aufwarf, für welche Themen Gewerkschaften eigentlich zuständig sind. Das zeigt unsere Forschung zum Verhältnis von Migrantenorganisationen und Gewerkschaften in den 1970er und 80er Jahren in Hamburg und Stuttgart. Ein kleiner Überblick:
Die Vertretung der Interessen von Migrant_innen im Betrieb erreichte 1972 mit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) einen wichtigen Meilenstein. Nun konnten auch Menschen ohne deutschen Pass als Betriebsräte kandidieren und diese wählen. Schon im November 1973 beschloss die Bundesregierung aber einen Anwerbestopp. Der DGB unterstützte diese Entscheidung und argumentierte, dass der Verzicht auf die weitere Anwerbung ausländischer Arbeiter_innen die Position der Beschäftigten in Deutschland stärken würde. Zugleich war 1973 auch die Blütezeit der wilden Streiks, von denen viele von Fabrikarbeiter_innen ohne deutschen Pass initiiert und getragen wurden. Die Streikenden, von der Gewerkschaftsspitze oft als Konkurrenz und Bedrohung wahrgenommen, forderten unter anderem die Abschaffung so genannter Leichtlohngruppen, die vor allem Frauen und Migrant_innen benachteiligte.
Zu bedenken ist, dass Unterscheidungen zwischen Migrant_innen und Nicht-Migrant_innen in vielen dieser Kämpfe gar nicht von Bedeutung waren; in vielerlei Hinsicht positionierten sich Migrant_innen als Kolleg_innen wie alle anderen auch. Oftmals hatten sie allerdings auch andere Probleme und Interessen als Arbeiter_innen mit einem deutschen Pass. Um auf solche Fragen reagieren zu können, richtete beispielsweise der DGB Hamburg bereits in den 1960er-Jahren eine zentrale Beratungsstelle für Migrant_innen ein.
Dies wurde insbesondere in den 1980er-Jahren deutlich. Diese Zeit war geprägt von der Debatte um Rückkehrförderung sowie einem Klima von „Ausländerfeindlichkeit“ und Rassismus. Zugleich waren Migrant_innen in dieser Zeit in der Gewerkschaftsarbeit sehr präsent und verschafften sich Gehör: Die IG Metall richtete beispielsweise 1984 so genannte Ausländerausschüsse ein. Hier organisierten Migrant_innen sich als eigene Personengruppe, indem sie ihre spezifischen Interessen und Probleme benannten und eigene Vorschläge für die Gewerkschaftspolitik machten. Zugleich gewannen antirassistische Bewegungen innerhalb und außerhalb von Gewerkschaften an Bedeutung. Dies war besonders wichtig angesichts rassistischer Übergriffe wie den durch rechte Skinheads verübten Mord an Ramazan Avcı 1985 in Hamburg. In dieser Zeit entwickelte der DGB mit der „Gelben Hand“ eine eigene Kampagne, die es bis heute gibt.
Nach und nach rückten Fragen der langfristigen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in den Vordergrund: Aufenthalt, Wohnen, Schulbildung und Betreuung der Kinder, Arbeitslosigkeit, Rente und politische Mitbestimmung. Nach anfänglichem Widerstand unterstützte der DGB in den 1980ern die Forderung nach dem kommunalen Wahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass. Und auch im „Jahrhundertstreik“ im Jahr 1984 um die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden Woche brachten sich eingewanderte Kolleg_innen maßgeblich ein. Dies blieb auch auf Arbeitgeberseite nicht unbemerkt. So ist von einigen Unternehmen bekannt, dass sie nach dem Streik vermehrt Beschäftigte ohne deutschen Pass entließen und keine Migrant_innen mehr einstellen wollten, um die gewerkschaftliche Kampfkraft zu schwächen.
Viele der Themen, die in den 1970/80er-Jahren wichtig waren, wie die Unterschichtung des Arbeitsmarktes, die weit gehende politische Entrechtung von Migrant_innen, restriktive Migrationspolitik und Rassismus sind auch in der heutigen krisengeschüttelten Arbeits- und Einwanderungsgesellschaft präsent. Eine antirassistische gewerkschaftliche Erinnerungspolitik, die Ambivalenzen im Verhältnis von migrantischen Organisierungen und Gewerkschaften nicht ausblendet, sondern Konfliktlinien, Kooperationsformen und Praktiken der Solidarität detailliert nachverfolgt, ist wichtig, damit heutige Kämpfe von ihrer Geschichte lernen können.
Entnommen aus Forum Migration Februar 2023