Gewerkschaftlicher Kompass in der Einwanderungsgesellschaft
Kommentar von Anja Piel, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB
Deutschland ist ein Einwanderungsland, aber die Konsequenz dieser ebenso banalen wie wahren Aussage haben bis heute nicht alle begriffen. Zwischen Anwerbung von Fachkräften und Abgrenzung von Geflüchteten schwankt das Land heute hin und her. Von außen betrachtet wirkt die Situation zutiefst widersprüchlich: 300.000 bis 400.000 ausländische Fachkräfte braucht der Arbeitsmarkt – und zwar Jahr für Jahr, so lautet die nahezu einhellige Aussage von Wirtschaft und Politik. Gleichzeitig gelten die bis zum Jahrsende prognostizierten 300.000 Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, aber als Katastrophe. Abschreckung und Absenkung humanitärer Standards sollen Zuwanderung begrenzen. Und diese negative Botschaft kommt natürlich auch bei denen an, die so dringend gebraucht werden.
Eine zielorientierte, konstruktive und an den Möglichkeiten von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik ausgerichtete Politik sieht anders aus. Statt der schrillen Töne der letzten Wochen, die letztlich nur auf das Konto der AfD einzahlen, braucht es konkrete Schritte, die auf der Auswertung der Erfahrungen der letzten Jahre fußen. Und nachdem auch Gewerkschaften Zeit gebraucht haben, um sich den Realitäten der Einwanderungsgesellschaft zu stellen, haben sie diese aber bis heute zu einem wichtigen Punkt ihrer Politik gemacht.
Im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte wird Deutschland nicht bestehen, wenn es sich bewusst unattraktiv macht und einer gesellschaftspolitischen Stimmung nachgibt, die vor allem von der extremen Rechten befeuert wird. Die Unterscheidung zwischen erwünschten Fachkräften und unerwünschten Asylsuchenden funktioniert auch deshalb nicht, weil Menschen, die in Deutschland arbeiten wollen, sich nicht als willkommen, sondern allenfalls als geduldet erleben. Die negativen Auswirkungen für Wohlstand und Wirtschaftskraft werden Deutschland weiter belasten, wenn sich die gesuchten Arbeitskräfte eher für Länder entscheiden, in denen sie sich sprachlich schneller zurechtfinden, von einer gut ausgestatteten Verwaltung begleitet werden und sich in der Mehrheitsgesellschaft willkommen fühlen.
Arbeit kann ein Schlüssel für Integration und gesellschaftliche Akzeptanz sein. Aber als Gewerkschaften sagen wir ganz klar: Es kann nicht um egal welche, sondern es muss um gute Arbeit gehen. Insofern weist der „Jobturbo für Geflüchtete“ in die richtige Richtung, muss jedoch an klare Bedingungen gebunden sein. Menschen müssen entlang ihrer Qualifikation beschäftigt werden und die Möglichkeit haben, sich weiter zu qualifizieren. Die so häufig beklagte Arbeitskräftelücke hat auch strukturelle Gründe. Es gibt immer noch zu viele schlecht bezahlte, prekäre und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, auf die Menschen sich in Zeiten des Arbeitskräftemangels nicht mehr einlassen müssen. Keinesfalls dürfen Zugewanderte dafür herhalten, solche strukturellen Probleme zu überdecken, in dem sie in genau diese schlechten Jobs gedrängt werden.
Spurwechsel und Chancenaufenthaltsrecht sind Möglichkeiten, die in Teilen künstliche Trennung von Geflüchteten und Arbeitsmigrant_innen zu überwinden. Wäre es nicht sinnvoller, mehr von den bereits hier lebenden Menschen zu qualifizieren, anstatt quer durch die Welt zu reisen, um anderen Ländern einige Hundert Krankenschwestern abzuwerben? Wenn Gewerkschaften mahnen, in der ganzen Debatte um Arbeitskräftezuwanderung nicht die Qualifizierung der hier lebenden Menschen zu vergessen, dann geht es immer um alle hier lebenden Menschen und damit eben auch um die Geflüchteten.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, eine tariflich geregelte auskömmliche Bezahlung und sichere Arbeitsplätze sind gewerkschaftliche Mindestbedingungen. Dass sich die Realität der Einwanderungsgesellschaft nicht immer an diesen Anforderungen orientiert, ist uns klar, und auch, dass es objektiv sehr unterschiedliche Interessen gibt. So kommen etwa über die Westbalkanregelung Menschen nach Deutschland, die für die kurze Dauer ihres Einsatzes häufig Gefahr laufen, in prekären, befristeten und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen zu landen. Für diese Kolleginnen und Kollegen ist eine schlechte Arbeit in Deutschland häufig immer noch besser als die Möglichkeiten im Herkunftsland. Aus gewerkschaftlicher Erfahrung wissen wir um die Gefahr, dass Standards guter Arbeit und tarifliche Regelungen auf diesem Weg ausgehebelt werden und dass solche Ausbeutung letztlich negative Folgen für uns alle hat. In solchen Widersprüchlichkeiten können sich Gewerkschaften aber bewegen, weil sie dank jahrzehntelanger Erfahrungen über einen klaren Kompass in der Einwanderungsgesellschaft verfügen.
Entnommen aus Forum Migration Dezember 2023