
Seenotrettung: Kein Pull-Faktor
Kommentar von Ramona Rischke und Alejandra Rodríguez-Sánchez
Trotz anhaltender politischer Bekundungen auf deutscher und europäischer Ebene, der gesetzlichen Verpflichtung zur Seenotrettung nachzukommen, zeigt sich am Beispiel des Mittelmeerraums nach wie vor eine Politik des systematischen Nicht- bzw. Zu-Spät-Eingreifens staatlicher Akteure sowie der systematischen Behinderung und Kriminalisierung ziviler Seenotrettung. Der These, die Seenotrettung übe einen „Anziehungseffekt“, einen so genannten Pull-Faktor auf Migrant_innen aus, die sich in Erwartung der Rettung in größeren Zahlen entscheiden, diesen irregulären und hochriskanten Seeweg über das Mittelmeer zu nehmen, wird bei den restriktiven Migrationspolitiken der vergangenen Jahre eine wichtige Rolle zugeschrieben.
Dabei unterliegt Migration, einschließlich Flucht, komplexen Entscheidungsprozessen. Die Wirkung einer bestimmten Maßnahme – etwa der Seenotrettung – empirisch zu bestimmen ist methodisch herausfordernd. Er erfordert den Vergleich eingetretener Ereignisse – etwa die Zahl der Überfahrten unter den gegebenen Umständen der Seenotrettung – mit nicht eingetretenen Ereignissen – etwa der Zahl der Überfahrten bei Ausbleiben der Seenotrettung.
Der Fokus unserer Forschung lag darauf, innovative Analyseverfahren zu nutzen (“Machine Learning”), um die Wirkung von Seenotrettung auf die Gesamtzahl der versuchten Überfahrten stichhaltig zu bestimmen. Es ging dabei nicht um individuelle Entscheidungsprozesse einzelner Migrant_innen oder Schlepper, sondern um die Wirkung von Seenotrettung auf das maritime Migrationsgeschehen insgesamt. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Seenotrettung im Mittelmeer keinen kausalen Einfluss auf die Zahl der versuchten Überfahrten hatte. Sie widerlegen damit die „Pull-Effekt-These”.
Anhand von Daten über die Anzahl der Überfahrtsversuche, der nach Tunesien und Libyen zurückgekehrten Boote und der dokumentierten Todesfälle von Migrant_innen im Zeitraum zwischen 2011 und 2020 modellierte unsere Studie Veränderungen bei der Anzahl versuchter Überfahrten in Abhängigkeit von unterschiedlichen Phasen der staatlichen und zivilen Seenotrettung und vielen anderen Einflussfaktoren. Die Daten zu den Überfahrten wurden aus unterschiedlichen Datenquellen zusammengetragen, darunter Informationen der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (FRONTEX), der tunesischen und libyschen Küstenwache, der Internationalen Organisation für Migration und UNITED for Intercultural Action. Anschließende Simulationen hatten zum Ziel, Faktoren zu ermitteln, die die im Beobachtungszeitraum dokumentierten Schwankungen in der Zahl der Grenzübertritte am besten vorhersagen.
Zu den bewerteten Faktoren gehörten die Zahl der staatlichen und privaten Such- und Rettungsaktionen, Wechselkurse, internationale Rohstoffpreise, Konflikte und Gewalt in unterschiedlichen Regionen, Arbeitslosenquoten, der Luftverkehr zwischen afrikanischen, nahöstlichen und europäischen Ländern sowie Wetterbedingungen. Wir stellen fest, dass die Zahl der Grenzübertritte auf dem Seeweg offenbar nicht von staatlich oder privat durchgeführten Such- und Rettungsaktionen beeinflusst wurde.
Sowohl die Zahl der Ankommenden über den Meerweg als auch die Zahl der Schiffsunglücke und der registrierten Todesfälle sind in letzter Zeit wieder gestiegen. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Such- und Rettungseinsätze im zentralen Mittelmeer in erster Linie Leben retten und keine Migration anziehen. Die Abschreckungsmaßnahmen der EU und der Partnerländer halten Menschen ganz offensichtlich nicht davon ab, zu versuchen, über gefährliche und irreguläre Routen in die EU zu gelangen. Die Abschottung erhöht jedoch ihre Risiken. Wissenschaftliche Studien über langfristige Trends der globalen Fluchtmigration bekräftigen, dass es vor allem sich ändernde Bedingungen und Konfliktdynamiken in Herkunftsländern sind, die das Ausmaß der internationalen Fluchtbewegungen beeinflusst, welche sich vor allem auf Länder außerhalb Europas erstrecken.
Das Mittelmeer wird zunehmend zum Sinnbild einer menschenfeindlichen Abschreckungspolitik, zu der das Narrativ des „Anziehungseffekts“ durch Seenotrettung beiträgt.. Dieses übermäßig vereinfachende Narrativ hat sich in der Vergangenheit als sehr wirksam erwiesen, um politische Entscheidungen zu beeinflussen und auf mehr Abschreckungspolitik zu setzen. Unsere Forschung legt nahe, dass es an der Zeit ist, mit diesem Narrativ Schluss zu machen.
Dr. Ramona Rischke leitet das Projekt „Seenotrettung im Mittelmeer“ am DeZIM.
Dr. Alejandra Rodríguez Sánchez forscht an der Universität Potsdam.
Entnommen aus Forum Migration September 2023